JÜRGEN HILLESHEIM: LOTTE
LENYA UND BERTOLT BRECHT
Über Bertolt Brecht gibt es eine Fülle von biografischen Schriften, von Lotte Lenya
dagegen wenig. Da war es eine hervorragende Idee von Jürgen Hillesheim, zum 125.
Geburtstag dieser beiden durch ihr künstlerisches Werk so eng miteinander verbundenen
Ausnahmepersönlichkeiten eine Doppelbiografie zu schaffen.
Lotte Lenya und Bertolt Brecht. Das wilde Leben zweier Aufsteiger hat er sie
überschrieben und insbesondere als Leiter der Brecht-Forschungsstätte Augsburg hatte er
Zugang zu wenig oder bisher noch gar nicht bekannten Quellen. Eingangs macht der Experte
kein Hehl daraus, dass im Mittelpunkt eigentlich ein Trio stehen müsste: neben dem
wegweisenden Dramatiker und der kongenialen Sängerin und Schauspielerin auch deren
Ehemann, der große Komponist Kurt Weill.
Eingangs widmet sich Hillesheim zunächst Kindheit und Jugend Brechts und er hat
tatsächlich neue Erkenntnisse zu bieten. So rückt er die Kindheit in ein realistischeres
Bild, nachdem sie bisher weitgehend als die in einer intakten Familie idealisiert wurde.
Aus jüngeren Quellen wird dagegen offensichtlich, dass die Mutter schon früh nicht
alltagstauglich war. Krankheiten und Depressionen schränkten die Wahrnehmung ihrer
Mutterrolle offenbar weitestgehend ein. Präzise und detailliert legt der Autor dies
ebenso klar wie das Gebaren des späteren Künstlers mit dessen früher Gier nach Ruhm und
Anerkennung.
Da war die Herkunjft von Karoline Blamauer, acht Monate später als Brecht 1898 in Wien
geboren, ein krasser Gegensatz. Eine sittenlose Mutter, ein versoffener gewalttätiger
Vater und ärmlichste Verhältnisse in einem dumpfen proletarischen Umfeld ließen das
Mädchen bereits als Kind mit unbeugsamem Willen nach Aus- und Aufstieg gieren.
Aus eigenen Aussagen ist bekannt, dass sie sich in ihrem Befreiungsdrang schon mit elf
Jahren prostituierte. Freiwillig, wie sie betonte. Und die sexuelle Freizügigkeit sollte
sie auch später nicht nur beibehalten, sie setzte ihres diesbezügliche erotische
Anziehungskraft bewusst auch karrierefördernd ein.
Wobei grundlegende Parallelen zwischen Brecht und Lenya erkennbar werden, denn beiden
begannen früh, ihren künstlerischen Erfolgsweg wie überhaupt ihre Lebensführung
jenseits bürgerlicher Ethik und Moral voranzutreiben. Wobei die noch in ihre
Schweizer Karriereanfängen zu Lotte Lenya gewordene Karoline Blamauer bereits 1921 nach
Berlin in die aktuelle künstlerische Hauptstadt Europas gekommen war, bevor auch Brecht
dort neue Chancen suchte.
Doch so sehr sie einander in vielem glichen von Anfang an mochten sie einander
nicht sonderlich. Während er von ihrer Darstellungskunst sehr angetan war, zeigte der
unersättliche Frauenfreund keinerlei Interesse an Lotte Lenya als Frau oder
Persönlichkeit. Was sich später auch wegen Brechts schäbigen Verhaltens
gegenüber seinem künstlerischen Partner Weill bis zu einer einzigartigen
Hassliebe steigern sollte.
An deren Beginn aber beider Aufstieg in den Olymp mit der Dreigroschenoper
stand, ab 1928 ein Welterfolg und das herausragende kulturelle Ereignis der Weimarer
Republik. Lenya war die idealtypische Interpretin der genialen Brecht/Weill-Lieder, doch
im US-Exil drifteten die beiden so Wesensverwandten sehr weit auseinander.
Da lagen wahre Welten zwischen dem Restleben des Dramatikers, der in die DDR zurückging
und schon 1956 starb, und der zur Amerikanerin gewordenen Künstlerin, die es wohlsituiert
bis zum Broadway-Star brachte und sich sogar in einer Überraschungsrolle als
Gegenspielerin von James Bond (Liebesgrüße aus Moskau, 1963) ein
unvergessliches Denkmal setzte.
Fazit: zum 125-Jährigen von Bertolt Brecht und Lotte Lenya eine spannend zu lesende
fundierte Doppelbiografie zu einer einzigartigen Künstlersymbiose.
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