MICHAEL LEMSTER: DIE
GRIMMS
Die Gebrüder Grimm gehören zu den berühmtesten Deutschen weltweit, doch selbst in
Bildungskreisen, die sich mit mehr als ihren Märchensammlungen befassen, weiß man über
Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) und ihre Familie erstaunlich wenig.
Diesem Manko hat sich nun der Kulturwissenschaftler Michael Lemster mit seiner großen
Biografie Die Grimms gewidmet. Das besondere Gewicht erhält dieses Werk durch
das, was der wie die Gebrüder in Hanau geborene Autor im Untertitel ankündigt:
Eine Familie und ihre Zeit. Vom ersten überlieferten hessischen vertreter des
Familiennamens Grimm und um 1580 dem ersten in Hanau über die hohe Zeit der Grimms bis zu
späteren Nachfahren ohne den Familiennamen reicht der Bogen.
Zunächst stellt Lemster das Umfeld vor, in das die beiden ältesten der insgesamt sechs
Kinder des Amtmanns Philipp Grimm hineingeboren wurden. Die Französische Revolution, die
Koalitionskriege und dann die Napoleon-Zeit prägten die Jahre von Kindheit und Jugend.
Schon früh verstarb der Vater, der die obrigkeitsgläubigen kleinbürgerlichen Tugenden
des Staatsbeamten seinen Söhnen vererbte.
Nur einer wohlwollenden Tante hat die Familie zu verdanken, dass sie nicht in die völlige
Armut nach dem Tod des Ernährers abstürzt. Für eine Ausbildung samt Studium aber reicht
es nur für Jacob und Wilhelm. Doch auch sie müssen schwer für ihre Karriere kämpfen,
bis sie als Philologen, Bibliothekare und schließlich sogar Professoren ihr Auskommen
haben.
Allerdings bringen die neuen Zeiten nach Napoleon mit dem Aufkommen des deutschen
Nationalgedankens ihen sehr entgegen. Forscher wollen sie Sein und nun sind
die früh vom Geist der Bücher infizierten Gebrüder sogar Vorreiter bei der Suche nach
einem kulturellen Erbe der Deutschen. Mindestens ebenso eignet sich da der Blick auf eine
eigene nationale Identität für ein studium, das noch kurz zuvor undenkbar gewesen wäre:
deutsche Märchen und Sagen.
Und so entstehen ihre bald weltberühmt werdenden Märchensammlungen, deren erster Band zu
Weihnachten 1812 erscheint. Schon 1815 folgt Band 2 und dann 1816 der erste Band
Deutsche Sagen. Doch nicht nur die Zeiten sind nicht ganz so idyllisch, wie
sie später oft dargestellt werden, auch die Arbeit der stillen Gelehrten ist meist frei
von Idylle, denn nur sehr bedingt sammelten sie die Märchen, indem sie den sogenannten
Volksmund vor Ort danach befragten.
Tatsächlich sammelten sie vieles über Freunde und Kollegen, durchforsteten Bibliotheken
und formulierten vielfach Überliefertes aus anderen Ländern einfach um, höflich
ausgedrückt. So wurde manch ein Märchen, das so urdeutsch daherkommt, aus anderen
Quellen eingedeutscht. Als Meister der eleganten Pirouette
bezeichnet Lemster die fleißigen Gelehrten denn auch.
Anfangs von magerem kommerziellem Erfolg beschieden, weil viele Geschichten als zu brutal
oder gar unmorlaisch angesehen wurden, trug zum legendären Ruf der Märchensammlungen
übrigens mit Ludwig Emil Lui Grimm auch ein jüngerer Bruder bei, der für
stilprägenden Illustrationen sorgte. Andererseits gab es mit Ferdinand Grimm auch ein
schwarzes Schaf in der Familie, das nach einem ominösen Sündenfall ausgeschlossen wurde
und im Elend endete.
Und dann machten sich ausgerechnet Jacob und Wilhelm Grimm bei der Obrigkeit unbeliebt,
als die 1837 als Teil der legendären Göttinger Sieben gegen die Aufhebung
der liberalen Verfassung im Königreich Hannover protestierten. Im Volk aber stärkte es
ihre Popularität als Märtyrer der Freiheit. Die mehrte sich noch mit dem
einsetzenden Siegeszug der Märchenbücher und ihrem großen Verdienst der Deutschen
Sprachbücher.
Jacob und Wilhelm Grimm waren Romantiker, emsige Gelehrte und zugleich quasi Helden des
Bürgertums. Gerade die Einbettung ihres Lebens und Schaffens einschließlich dem der
übrigen Familie in den Kontext dieser bewegten Epoche mit all ihren folgenreichen
politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen machen diese Biografie zu einem spannenden
Geschichtswerk.
Wie schon in seinem Vorläuferbuch Die Mozarts. Geschichte einer Familie
überzeugt Michael Lemster auch hier mit ebenso prägnanter Wissenschaftlichkeit wie mit
hohem Unterhaltungswert.
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