AI WEIWEI: 1000 JAHRE FREUD
UND LEID
Spätestens seit seinem Auftritt bei der Dokumenta 12 2007 in Kassel zählt Ai
Weiwei zu den berühmtesten und auch prägendsten bildenen Künstlern unserer Zeit. Doch
das Besondere ist seine Geschichte, sein so sehr anderer Weg in die internationale
Kunstszene, die eine ganz andere Lebenserfahrung zum Hintergrund seiner Entwicklung hatte.
Um so gespannter wurde seine Autobiografie erwartet, die nun weltweit unter dem Titel
1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen erschienen ist. Uneitel in Bezug auf
die eigene Person und mit der gewohnt großen Präzision richtet er den Blick zunächst
auf seine Wurzeln. Die Geschichte der Großeltern wird umrissen, wogegen die des Vaters
dann einen wesentlichen Teil der gesamten Chronik ausmacht.
Und diese Chronik eines außerordentliche wechselvollen Lebens ist wie die des Autors
eingebettet in die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. Ai Quing (1910-1996) studierte in
Paris und lernte den Kommunismus kennen. 1941 schloss sich der junge Lehrer der KP Chinas
als Mitglied an und zählte sogar als Vertrauter im engeren Kreis der KP-Führung bis hin
zu Mao Zedong.
Als Dichter schätzte ihn gerade auch Mao und in der 1949 gegründeten Volksrepublik
genoss er einen solchen Ruf, dass er selbst von Kollegen wie Pablo Neruda verehrt wurde.
Doch just 1957, dem Jahr, in dem Ai Weiwei geboren wurde, fiel er der von Mao
angezettelten Kampagne gegen angebliche Rechtsabweichler zum Opfer.
Doch der Verbannung der Familie in die Ödnis von Klein-Sibirien im fernen Osten zwecks
Umerziehung folgte zehn Jahre später ein noch weit schlimmerer Absturz, als
die ebenfalls von Mao ausgelöste Kulturrevolution losbrach. Die Mutter zog fort, Au Quing
und sein Sohn aber hausten fortan auf Jahre in einer primitiven Erdhöhle. Hinzu kam die
Degradierung zum Latrinenreiniger und öffentlichen Watschenmann.
Anders als man es von den oft provokativen Kunstwerken und Aktionen Ai Weiweis gewohnt
ist, schildert er diese Jahre des Elends und der Demütigung mit einer sachlichen Kühle,
die das Grauen dieser Zeit und die Wirkung auf den jungen Sohn vermutlich
intensiver wirken lässt, als wäre sie von verständlicher Bitterkeit oder Larmoyanz
begleitet.
Die Entfremdung und Feindseligkeit, denen wir von den Menschen um uns begegneten,
ließen in mir ein klares Bewusstsein entstehen, wer ich war, und prägten mein Urteil
darüber, wie gesellschaftliche Stellungen entstehen. Bemerkenswert ist dabei, dass
sich Vater und Sohn trotz allem eher fremd blieben. Erst als der 1980 endlich
rehabilitierte Ai Quing in den 90er Jahren erkrankte, kehrte der seit 1981 in New York
lebenden und zum bereits viel beachteten Künstler herangewachsene Sohn nach China
zurück.
Wie wichtig ihm später die zumindest intellektuelle Annäherung an den Vater war,
unterstreichen die vielen, teils längeren Auszüge aus Gedichten Ai Quings. Und diese
Erinnerungsarbeit wurde in der Einsamkeit des Arrests ausgelöst, um dem eigenen Sohn Ai
Lao eine verstehbare Erinnerung zu ermöglichen.
Im Übrigen wirkten wie bei seinem Vater auch für Ai Weiwei mit einer entscheidenden
Prägung, die sie quasi inkompatibel für das jeweils herrschende Regime in China machte.
Waren es beim Vater Paris und Europa, hatte der Sohn im Westen ebenfalls einen ganz
anderen offenen und kritischen Blick bekommen.
Diese Vita des gefeierten und verfemten Vaters als entscheidende Vorgeschichte des
Künstlers Ai Weiwei ist vielleicht der fesselndere Teil dieser Erinnerungen, auch weil
bisher weniger bekannt. Der Weg des internationalen Stars ist relativ gut dokumentiert und
Ai Weiwei streift ihn eher in Grundzügen. Um so spannender lesen sich allerdings seine
präzisen Schilderungen der Zeit als Menschenrechtsaktivist und Regimekritiker im modernen
China. Wie sein seit 2005 betriebener Blog 2009 gesperrt und er 2011 nach einer USA-Reise
mit großem Polizeiaufgebot festgenommen wurde.
Mit sarkastischer Genugtuung zitiert er da aus seinem vierjährigen Geheimarrest
offiziell wurde er wegen Steuerhinterziehung angeklagt seinen Verhöroffizier von
der Staatssicherheit. Der hatte ihm eines Tages in ungewöhnlicher Offenheit eingestanden,
Ai Weiwei sei ja kein böser Mensch oder Übeltäter: nur ein arroganter
Unruhestifter.
Der erst 2015 seinen Reisepass zurückbekam und sofort ausreiste, um eine Gastprofessur an
der Berliner Akademie der Künste anzunehmen. Unbequem und kritisch ist der Star so vieler
internationaler Ausstellungen auch im Westen. Da war es auch weniger die Lust nach
rtswechseln, die ihn dann nach Cambridge und schließlich nach Portugal ziehen ließen.
Ai Weiwei, ein außergewöhnlicher Künstler mit einer ebensolchen Vita kein
Biograf von außen hätte sie so aufschlussreich und teils geradezu schmerzlich
authentisch verfassen können. Fazit: ein tief beeindruckendes großartiges Stück
Literatur.
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