ZERUYA SHALEV:
SCHICKSAL
Der neue Roman der israelischen Bestsellerautorin Zerya Shalev ist anders als ihre
bisherigen, vor allem aber hochaktuell. Schicksal lautet der Titel, es sind
allerdings zwei Lebensläufe, die sie ebenso komplex wie folgerichtig miteinander
verknüpft.
Das erste Kapitel begleitet die 49-jährige Architektin Atara, die das Vorleben ihres
ungeliebten Vaters ergründen will. Erst auf dem Sterbebett hatte er über seine große
Liebe Rachel gesprochen, mit der er sogar ein Jahr verheiratet war. Ähnlich verschwiegen
wurde aber auch allgemein das Treiben der Lechi, in der er mitwirkte, eine
zionistischen Untergrundorganisation, die ab 1940 die britischen Besatzer mit
Terroranschlägen bekämpfte.
In Ungnade fiel diese Gruppierung, als sie auch dann nicht von ihrem Treiben abließ, als
der vereinte Kampf gegen die Nazis Vorrang gehabt hätte. Ataras Vater gehörte selbst
nach dem Krieg noch zu den Aktivisten. Welche Rolle aber spielte Rachel in Vaters Leben
und warum verschwand er ganz plötzlich und auf immer aus ihrem Leben?
Das will die Tochter bei der jetzt gut 90 Jahre alten Rachel erfahren, die jetzt aus ihrer
Perspektive in die Vergangenheit zurückblickt. Wie sie sich als Teenager der Lechi
anschloss, Meno begegnete und für ein kurzes bewegtes Jahr sogar seine Ehefrau wurde. Wie
sich mit bitteren Worten herausschält, hatte eine schicksalhafte Verkettung von Zufällen
dazu geführt, dass das Paar für eine junge Israelin zu ungewollten Todesengeln wurde.
Und es lässt tief blicken, dass dieses unschuldige Opfer Atara hieß und Meno seine
Tochter aus zweiter Ehe genauso nannte. Die dann später ebenfalls sehr plötzlich ihre
erste Familie verließ, um sich ganz dem verlockenden Wissenschaftler Alex zuzuwenden und
ihn sogar zu heiraten. Der sich seinerseits für sie scheiden ließ und der Vater ihres
gemeinsamen Sohnes Eden wurde.
Während der schwierigen Annäherung der beiden so über Kreuz miteinander verbundenen
Frauen wird der längst zum grantelnden Zausel mutierte Alex mit einem Herzinfarkt ins
Krankenhaus eingeliefert. Immer mehr spürt man, wie aus den visionären Jahren des
frühen Israel mit seinem ständigen Überlebenskampf die Protagonisten ebenso
desillusioniert und orientierungslos geworden sind wie die israelischen Gesellschaft
insgesamt.
Geradezu exemplarisch stehen die in sich widerstreitenden Patchworkfamilien für diesen
schmerzlichen Zustand, den Zeruya Shalev hier schonungslos seziert. Sie tut das mit einer
vor Leben und Leidenschaft schier berstenden Prosa, ebenso sarkastisch wie sinnlich. Wobei
ihr Anne Birkenhauer eine so kongeniale Übersetzerin war, dass die Autorin dies sogar
einleitend betont. Fazit: ein gewaltiger Roman, klarsichtig und packend.
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