SUSANNE ABEL: STAY AWAY FROM
GRETCHEN
Eigene Erkenntnisse waren die Inspiration für Susanne Abels Debütroman Stay away
from Gretchen. Eine unmögliche Liebe. Bei der Pflege ihrer demenzkranken Mutter
erlebte die erfahrene Autorin und Regisseurin zahlreicher TV-Dokumentationen, wie die so
lange verdrängten Schrecken der Vergangenheit nun ihre Gegenwart fluteten.
Für diesen Roman aber wagte sie eine schier unglaubliche Verknüpfung von Themen von der
Flucht am Kriegsende 1945 bis zur Flüchtlingswelle von 2015, von der harten
Nachkriegszeit über Rassismus und Brown Babies sowie die gebrochenen
Spätheimkehrer bis hin zum hier so zentralen Auslöser ungeahnter Folgen, der Demenz. Und
es sei vorweg gesagt: das Werk ist wunderbar gelungen.
Es beginnt mit einer Irrfahrt, nach der die 84-jährige Arztwitwe Greta Monderath aus
Köln verwirrt in Aschaffenburg aufgegriffen wird. Sohn Tom, der populäre
TV-Nachrichtenmann, wird unausweichlich mit einer Gewissheit konfrontiert, die seine
Mutter seit längerem mit Merkzetteln und kleinen Lügen überdeckt hat: sie leidet unter
fortschreitender Demenz.
Erfolgreich, arrogant und als bewusster Single mit Gelegenheitssex und viel Alkohol nur am
Job interessiert, muss er sich nun mit 45 verstärkt um sie kümmern. Dabei hat er doch
ein reserviertes Verhältnis zu ihr. Wie hat er unter ihrem Schweigen und ihren schweren
Depressionen bis hin zu Sanatoriumsaufenthalten gelitten.
Von ihrer Vergangenheit aber weiß er fast nichts und die bricht jetzt stückweise auf,
denn die Demenz lässt den eisern gehüteten Betondeckel über den Kellern der einst
erlebten Traumata zerbröseln. Womit das Geschehen ins Jahr 1939 springt, zur
achtjährigen Greta und ihrer Familie in Ostpreußen. Kindliche Nazi-Begeisterung vom
Vater bei den Töchtern noch gefördert, wogegen sich der liebevolle Opa als
Sozialdemokrat zurückhalten muss.
Dann jedoch das Bangen um den Vater, der ab 1942 bei Stalingrad vermisst wird, und es
folgt im eisigen Januar 1945 die Flucht. Mit allen Schrecken, bei denen auch Mutter und
Oma den Gewaltexzessen der Russen nicht entgehen. Diesen beklemmenden Schilderungen
schließen sich weitere von der Ankunft der Flüchtlinge an, die im Westen alles andere
als willkommen sind und sich aufs Primitivste durchschlagen müssen.
In der Gegenwart des Jahres 2015 werden die neuzeitlichen Flüchtlinge, ihr Leiden und
ihre Anfeindungen eingeblendet. Tom hat beruflich intensiv damit zu tun, privat nun aber
auch, denn Stück für Stück stößt er auf Geschehnisse der Mutter, von denen sie nie
gesprochen hat. Nur mühsam kann der clevere Investigativjournalist Verborgenes aus ihr
herauskitzeln.
Immer unglaublichere Funde macht er, doch die Antworten Mutters, wer der Schwarze auf dem
Familienfoto aus den Heidelberger Nachkriegsjahren war, kommen mal vage, mal
unverständlich. Um so raffinierter wird seine derzeitige Ersatzassistentin die ihn
ansonsten eigentlich nur nervt bei ihren Recherchen fündig. Noch intensiver aber
wird der neuerliche Sprung in diese Jahre, in denen die 16-jährige Greta den fünf Jahre
älteren GI Bob Cooper kennenlernt, der nebenher als Trompeter zu den Stars der US-Clubs
gehört.
Die schwarzen Soldaten erleben hier ungeahnte Freiheiten, die sie daheim noch auf
Jahrzehnte nicht haben werden. Wenngleich auch hier der Rassismus floriert, vor allem
hinsichtlich des Problems der Brown Babies - und auch Greta bekommt 1949 ein
solches dunkelhäutiges Kind. Als Tom es erstmals auf einem Foto entdeckt, ist er
fassungslos. Und die Recherchen stoßen auf noch unfassbarere Fakten.
Es kommt zu herzergreifenden Szenen, als erst der Vater als verbitterter Spätheimkehrer
seinen ganzen Rassenhass ausspuckt und dann der noch minderjährigen Greta ihr geliebtes
Kind abgenommen wird. Obendrein muss Bob heimkehren und trotz Eheversprechen reißt die
Verbindung ab. Diese menschlich grausamen Vorgänge zerbrechen Greta endgültig, als man
ihr im Rahmen des Brown Baby Plans 1952 auch noch die kleine Marie wegnimmt
und zur Adoption nach Amerika schickt.
Und die Autorin fährt auf den beiden Zeitebenen fort, mal die bitteren Jahre, als die
Brown Babies wie auch deren diskriminierten Mütter zwischen allen Stühlen saßen, mal
die Aufdeckung immer neuer Familiengeheimnisse, nun da für Greta ein fest verriegeltes
Eisentor wieder aufgegangen ist. Das wird immer spannender und es offenbart auch zutiefst
berührende Schicksale.
Eine nie vergessene unmögliche Liebe, ein gestohlenes Kind und das alles erwiesenermaßen
absolut authentisch eine solche Geschichte braucht ein Happyend, sonst wäre sie in
ihrer Tragik kaum zu ertragen. Susanne Abel hat das Alles mit gradliniger Prosa zu einem
grandiosen Stück Gegenwartsliteratur gemacht, das man unbedingt bei den Unvergesslichen
einordnen darf.
Wer sich im Übrigen über den seltsamen Titel wundert: mit dieser Dienstanweisung wurden
die US-Besatzungssoldaten vor Liebeleien mit deutschen Frauen gewarnt, da diese allesamt
Amazonen seien und vielfach Syphilis hätten. Und eine kleine Empfehlung am Rande
das Bereithalten eines Taschentuchs ist bei diesem Buch auf jeden Fall sinnvoll.
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