RICHARD RUSSO: JENSEITS DER
ERWARTUNGEN
Drei Studenten am vornehmen Minerva College im feinen Cape Cod an der Küste von
Connecticut erleben am 1. Dezember 1969 am Bildschirm im Hinterzimmer des Clubhauses, in
dem sie jobben, eine ebenso makabre wie zynische Veranstaltung mit: die
Einberufungslotterie.
An diesem und einem weiteren Tag werden jeweils 366 Lose gezogen und wessen Geburtstag
früh gezogen wird, der hatte den baldigen Abmarsch in den Vietnam-Krieg zu erwarten.
Mickey Giradi, den hünenhaften Rockmusiker aus dem nahen West Haven, trifft es mit der
Nummer 9 direkt. Lincoln Moser aus der Kleinstadt Dunbar im fernen Arizona darf dagegen
mit der Nummer 189 hoffen und Teddy Novak, Lehrersohn und Pazifist aus dem Mittleren
Westen ist mit Platz 322 sicher aus dem Rennen.
Damit beginnt Jenseits der Erwartungen, der neue Roman des
Pulitzer-Preisträgers Richard Russo. Das Geschehen springt dann ins Jahr 2015 und die
Jungs, alle inzwischen 66 Jahre alt, kommen für ein Wochenende in einem Sommerhaus in
Chilmark auf dem vornehmen Martha's Vineyard zusammen. Das Haus gehört Lincoln, dem es
als Immobilienmakler in Las Vegas recht gut geht. Außerdem hat er mit der Anwältin Anita
eine prachtvolle Frau, etliche Kinder und erste Enkel.
Teddy geht es mittelprächtig als Kleinverleger religiöser Bücher und weniger gut
gesundheitlich. Doch auch Mickey, inzwischen Toningenieur und mit der Gitarre regional
eine lebende Legende, zollt dem wilden Musikerleben Tribut. Glänzend wechselt der Autor
zwischen Gegenwart und Vergangenheit wie auch zwischen den Protagonisten Lincoln und
Teddy. Elegant werden die familiären Hintergründe eingeflochten und machen das Alles
höchst realistisch und authentisch.
Die drei Musketiere nannten sie sich in den glücklichen Jahren am College, zu
denen gehörte aber bekanntlich noch d'Artagnan. Bei dem Trio war dies Jacy Calloway, eine
wilde Kommilitonin aus reichem Haus, die außerdem in Mickeys Band mitsang. Jeder der Drei
war in sie verliebt und hoffte insgeheim, einst von ihr erhört zu werden. Dabei war sie
doch mit einem reichen Schnösel namens Vance verlobt.
Nach der Abschlussfeier im Sommer 1971 hatte sie mit den Jungs im Ferienhaus gefeiert,
danach aber war wie spurlos verschwunden. Keiner der jungen Männer vergaß sie je,
während sie ihre Leben lebten. Der von allen drei als sinnlos verabscheute Vietnam-Krieg
holte keinen von ihnen, denn auch Mickey entzog sich ihm auf Drängen der Freunde
durch die Flucht nach Kanada.
Und jetzt, 44 Jahre danach, stehen nicht nur ihre Erinnerungen, die ausgesprochenen und
die verheimlichten, im Mittelpunkt. Was sie aus ihren Leben gemacht haben, sie aus diesen
Jahrgängen von 1944 bis 1950, denen der blutige Weg nach Südostasien erspart blieb. Wie
sehr das als Hintergrundleuchten diesen Roman prägt, lässt allein schon die Widmung
erahnen: Für jene, deren Namen an der Mauer stehen (dem Granit-Memorial mit
über 58.000 Namen der Gefallenen in Washington).
Gleichwohl stehen die Schicksale der exzellent gezeichnete drei Protagonisten im
dramaturgisch souverän gemeisterten Wechselspiel im Mittelpunkt. Und der breite
Erzählstrom nimmt immer mehr Fahrt auf und als Lincoln nun einen schwerkranken
Polizisten, der damals nach der vermissten Jacy gesucht hatte, noch einmal zu Ermittlungen
anstacheln kann, entwickelt sich sogar eine Art Krimi. Bis dann endlich auch Mickey seine
große Stunde als Erzähler bekommt und das Wiedersehen der alten Freunde, die sich so gut
kannten und doch so vieles nicht wirklich voneinander wussten, zu einem packenden Ende
bringt.
Fazit: ein großartiges Meisterwerk, das mit glänzender Prosa und psychologischer
Tiefenschärfe das realistische Bild einer ganzen Generation zeichnet.
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