EDWARD CAREY: „PETITE“


Anna Marie Grosholtz (1761-1850) war ein sehr zierlicher Säugling und auch später blieb sie ein Winzling von Statur. In ihrem langen und sehr bewegten Leben wurde sie dennoch weltberühmt als Madame Tussaud mit dem gleichnamigen Wachsfigurenkabinett.
Daraus hat der britische Schriftsteller und Illustrator Edward Carey nun einen Roman gemacht, der seinesgleichen sucht. Der Titel lautet „Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchen namens Petite, besser bekannt als Madame Tussaud“ und der Autor richtet sein Werk auch sehr nahe an der realen Vita der Künstlerin aus. Wozu anzumerken ist, dass die ursprünglich völlig ungebildete Frau aus ärmlichen Verhältnissen 1838 tatsächlich eine Autobiografie verfasst hat.
So passt es auch, dass Carey „Petite“, wie sie allgemein genannt wurde, selbst erzählen lässt. Das aber in einer Sprache, die in charmanter Weise auf altmodisch getrimmt ist und zuweilen gar manierierte Züge hat. Mit acht bereits Waise geworden, nimmt Dr. Philipp Curtius Marie als Dienstmädchen unter seine Fittiche.
Und der Arzt an einem Berner Krankenhaus, der große Fähigkeiten im Modellieren lebensechter Wachsfiguren hat und solche zu Anschauungszwecken fertigt, findet in der Kleinen eine gelehrige Schülerin mit außerordentlichem Talent. Bald ziehen die Beiden nach Paris, wo die geschäftstüchtige Witwe Picot sie für sich vereinnahmt und für Erfolg sorgt. In einem leerstehenden Affenhaus entsteht eine richtige Wachsfigurenausstellung und Curtius modelliert dort Köpfe berühmter Leute wie Rousseau und Voltaire, aber auch von berüchtigten Verbrechern, und erntet Ruhm und Geld.
Wovon Petite ebenso wenig erhält wie Zuwendung. Um so besser trifft es sich, dass sie 1778 als Kunstlehrerin an den königlichen Hof von Versailles gerufen wird, um Prinzessin Elisabeth, die 14-jährige Schwester von König Ludwig XVI., zu unterrichten. Es beginnt eine ganz einzigartige Geschichte, denn die beiden gleichermaßen kleinwüchsigen und eher unansehnlichen Frauen sind einander fast schwesterlich zugetan.
Drollig aber wird die kurze, sehr spezielle Beziehung zum König selbst. Zugleich verfeinert Petite ihre Zeichenkünste und fertigt die ersten eigenen Wachsköpfe an. Bis es wegen zu großer Echtheit all der königlichen Häupter zum Eklat kommt, so dass Dr. Curtius, immer noch ihr Meister, sie heimholt. Und bald gibt es ganz andere Köpfe zu bestaunen, denn man schreibt das Jahr 1789 und die Französische Revolution bricht aus.
Eine Art Hauptsaison für Köpfe fordert nun reihenweise auch Wachsköpfe, die Curtius und Petite reihenweise nun als Symbole für die von der Guillotine abgetrennten echten machen bis hin zu dem des Königs selbst. Doch Petite droht schließlich selbst zu einem der ungezählten Opfern der besonders blutigen Phase der Revolution zu werden. Nur ihre Schwangerschaft und schicksalhafte Wendungen bewahren sie vor den Scharfrichtern.
Es sind spannende und bewegende Passagen, wie Petite diese wilden Zeiten durchmacht. Um so verständlicher wird es da, dass sie schließlich mitsamt ihren Kindern nach England flüchtet, wo sie bekanntlich zunächst mit ihren Köpfen und Torsi durch die Lande reiste und 1835 dann das noch heute weltberühmte Wachsfigurenkabinett in Londons Baker Street gründete.
Fazit: ein Historienroman der besonderen Art, der dank seiner Sprache, den vielen beispielhaften Zeichnungen und großer Realitätsnähe ein ums andere Mal fasziniert.

# Edward Carey: Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud (aus dem Englischen von Cornelius Hartz); 492 Seiten, ill.; C. H. Beck Verlag, München;

€ 24

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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