PHILIP KERR: „BERLINER BLAU“


Welch ein unersetzlicher Verlust der 2018 viel zu früh verstorbene Philip Kerr für das Genre des Politthrillers ist, zeigt der mittlerweile 12. Fall um Bernie Gunther, den ebenso exzellenten wie eigenwilligen Ermittler vor realem historischem Hintergrund.
„Berliner Blau“ lautet der Titel und der hat zunächst mit einer höchst unangenehmen Überraschung für Gunther zu tun. Es ist der Oktober 1956 und der einstige Berliner Kriminalist lebt unter falschem Namen an der französischen Riviera als Hotel-Concierge. Was jedoch außerhalb der Saison trist ist. Um so mehr freut er sich, dass seine getrennt lebende Frau ihr Kommen ankündigt.
Statt ihrer erscheinen jedoch alte Bekannte aus der jungen DDR und mittendrin Genosse General Erich Mielke, noch nur stellvertretender Chef der Stasi. Mit seinem typischen kalten Zynismus verlangt er von Gunther die Eliminierung der abtrünnigen Agentin Anne French. Eben jener Schönen, mit der Gunther im Vorgängerroman „Kalter Friede“ erst eine Affäre hatte, um dann ganz böse von ihr verraten zu werden.
Mielke besteht allerdings auf einer neuen Spezialität der Exekution der in England untergetauchten Agentin: mit dem quälend langsam wirkenden Thallium. Gegen das es nur ein Gegenmittel gibt, das dabei aber ebenso Höllenqualen bereitet, den bei Malern beliebten Farbstoff Berliner Blau. Als Nebenauftrag soll Gunther anschließend in der Bundesrepublik Neonazi-Organisationen aufbauen als politische Propagandaziele des Ostblocks.
Doch Gunther hat nicht vor, zum Auftragsmörder zu werden und obwohl Friedrich Korsch, sein hochklassiger Kripo-Kollege noch aus Berliner Zeiten zu seiner Stasi-Eskorte auf dem Weg nach England gehört, gelingt dem cleveren Gunther die Flucht. Da dabei aber einer der Schergen auf der Strecke bleibt, wird er nun von Stasi und französischer Polizei gejagt.
Zugleich springt das Geschehen in gewohnt meisterhafter Manier wieder in alte Zeiten. Wo sich Gunther und Korsch wiederbegegnen, denn man schreibt April 1939, eine Woche vor Hitlers 50. Geburtstag. Kein Geringerer als SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich befiehlt den als brillanten Ermittler gerühmten Gunther zu sich. Der Polizeigeneral weiß sehr wohl, dass dieser Sozialdemokrat war und die Nazis an sich verabscheut.
Viel wichtiger aber ist dem eiskalten Machtmenschen, dass Gunther nicht nur als der Beste seines Faches sondern auch als unbestechlich gilt. Und dieser Fall hat es in sich: auf der Terrasse von Hitlers geliebten Berghof fiel der Ingenieur Karl Flex inmitten mehrerer Mitarbeiter tot um, mit einem so leisen Spezialgewehr erschossen, dass niemand den Schuss gehört hat. Und das zu diesem Zeitpunkt! Das darf der Führer, der dort seinen Geburtstag feiern will – und bekanntlich bis zu seinem Ende weit mehr Zeit auf diesem inoffiziellen Regierungssitz verbrachte als im ungeliebten Berlin – niemals erfahren, denn die Folgen wären unabsehbar.
Gunther soll den Fall in dieser einen Woche aufklären und natürlich darf nichts nach außen dringen. Doch Heydrich gibt ihm noch einen weiteren Auftrag mit: insgeheim soll Gunther die Gelegenheit nutzen, Heydrichs großen Rivalen und heimlichen Chef des Refugiums auf dem Obersalzberg, Hitlers Stabschef und Privatsekretär Martin Bormann, ausspionieren.
Der Sonderermittler bekommt es auf Hitlers Alpenresidenz mit der gesamten Nomenklatura realer Nazi-Größen zu tun und einmal mehr fasziniert die authentische Darstellung solcher historischer Figuren wie Bormann und dessen verfeindeter Bruder Albert aber auch auf der anderen Zeitebene der gefährliche Popanz Mielke.
Auch diesmal wird es nicht nur durch die dramaturgischen Wechsel atemberaubend fesselnd, denn der britische Autor zeichnet packende Charaktere und als sarkastischer Ich-Erzähler hat sein Antiheld Abenteuer zu durchstehen wie ein James Bond, nur viel realistischer. Und er hat ja auch seine brüchige moralische Haltung wie auch eine sehr eigene Meinung mit knackigen satirischen Bonmots wie zum Beispiel: „Die Nazis waren eigentlich nie schwer zu verstehen; ihre Logik war stets makellos faschistisch.“
Dass Bernie Gunther auch seinen Stasi-Verfolgern im Herbst 1956 trotz haarsträubender Attacken entkommt, kann hier beruhigt verraten werden, denn es war Philip Kerr vor seinem überraschenden Tod noch vergönnt, Fall 13 um den Ermittler abzuschließen. Nach diesem brillanten Thriller vor spannendem Echtheitshintergrund auf jeden Fall eine tröstliche Nachricht.

# Philip Kerr: Berliner Blau (aus dem Englischen von Axel Merz); 638 Seiten; Wunderlich Verlag, Hamburg; € 23

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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