HENRIETTE DYCKERHOFF: „WAS MAN UNTER WASSER SEHEN KANN“


„Das ist das Schlimme an Ronnebach, hier bestehst du zu 98 Prozent aus Vergangenheit.“ Das und ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter Marion waren Grund genug, warum Luca vor einigen Jahren aus der miefigen Dorfidylle im Sauerland nach Berlin entflohen war.
Und geblieben, obwohl sie statt das Studium abzuschließen jetzt für Vinz den kleinen Laden in Neukölln führte. Nun aber dieser überraschende Anruf der Mutter, dass sie sie besuchen wolle. Als sie jedoch ausbleibt, wird Luca unruhig und fährt schließlich in die alte ungeliebte Heimat. Zumal man Marions Auto an der Ronne-Brücke gefunden hat, ohne jede weitere Spur von ihr.
Mit diesem ungewollten Wiedereintauchen in den kleinkarierten Kosmos beginnt Henriette Dyckerhoffs Debütroman „Was man unter Wasser sehen kann“. Luca zieht wieder in ihr altes Zimmer in Oma Gretes Haus, wo auch Marion eine kleine Kellerwohnung hat. Als sie dort noch zu dritt lebten, war es stets kiebig zugegangen, denn Marion war ein streitbarer Wirbelwind gewesen, der sich nur für ihren Job im „Frizz“, Männerbekanntschaften und Alkohol interessiert hatte.
Grete ersetzte Luca von klein auf die Mutter und nimmt wenig Anteil am Verbleib Marions. Im Dorf stößt Luca nun auf all die alten Gesichter, muss übles Gerede über „Marjon“, die typische Dorfschönheit, hören, die immer weg wollte und stattdessen in der Kneipe jobbt. Und ihre reizbare Tochter taucht auf ihrer Suche wider Willen in die mühsam verdrängte Vergangenheit mit all den Erinnerungen ein: „Jeder trägt hier einen Riesenrucksack alter Geschichten mit sich rum.“
Nichts wird hier vergessen und dazu wechselt die Erzählebene immer wieder zu jener für das ganze Dorf so einschneidenden Zeit, als Mitte der 50er Jahre alte Pläne für den Bau einer Talsperre realisiert werden wollten, just dort, wo das ursprüngliche Ronnebach lag. Es gab heftige Widerstände dagegen, denn alle sollten in ein neues Dorf oberhalb des Stausees umgesiedelt werden. Am galligsten reagierte der junge Cord Hennes, der mit seiner Mutter einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete und nicht hinnehmen wollte, dass sein Vater angeblich vor dem Krieg einen Vertrag mit dem Talsperrenverein abgeschlossen hatte.
Über Jahre zieht sich der Kampf hin und Cord ist derjenige, der im Juni 1965 einen schicksalhaften letzten Gang zu den Resten seines Hofes machte, bevor das Wasser alles überschwemmen sollte. Folgen wird das haben und wieder raunt die Legende der Ronne-Marie in einer neuen Version. In der Gegenwart von 2015 aber verzweifelt die 28-jährige Luca an der Suche nach Marion und erfährt zugleich manch Verwirrendes aus der eigenen Familiengeschichte.
So vieles wurde verschwiegen und wird bis heute bestritten. Manches wiederum ergibt erst mit neuen schmerzlichen Erkenntnissen einen Zusammenhang. Und trotz aller Bitterkeit lässt sie nicht locker: „Weil ich nicht einsehen will, dass meine Mutter nicht mehr ist als eine versoffene, abgewrackte Frau, der ich gleichgültig bin.“ So entwickelt sich diese Geschichte dreier Frauen immer spannender weiter und der Bogen über rund 50 Jahre birgt so manche Überraschung und wirkt dabei ausgesprochen authentisch.
Vor allem aber reißen die knorrigen Protagonisten mit und eines wird überdeutlich: Henriette Dyckerhoff kennt ihre Pappenheimer, ist sie doch selbst im Sauerland geboren. Entsprechend genau hat sie ihnen bei ihrer schnörkellosen direkten Sprache aufs Maul geschaut.
Nimmt man die sehr bildhaft beschriebene Landschaft hinzu, ergibt das Ganze ein außergewöhnliches Exemplar von Heimatroman. Fazit: dieses Debüt ist ein großartig gelungenes Stück Literatur von hoher Echtheit und zuweilen herber Poesie.

# Henriette Dyckerhoff: Was man unter Wasser sehen kann; 378 Seiten; Rütten & Loening Verlag, Berlin; € 20


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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