CHRISTINE MANGAN: NACHT ÜBER
TANGER
Alice Shipley verlor schon als Kind ihre Eltern. Dass die junge Engländerin als Teenager
dennoch auf ein renommiertes College im amerikanischen Vermont gehen kann, verdankt sie
der Hinterlassenschaft, aus der ihre Tante ihr regelmäßig Geld überweist.
Am College trifft sie auf die gleichaltrige Lucy Mason, sehr attraktiv, aber ebenso
elternlos wie Alice. Nur dank eines Stipendiums kann auch sie hier studieren. Der Zufall
führt beide aufs selbe Zimmer im Wohnheim und trotz der Gegensätzlichkeit ihrer
Charaktere werden sie nicht zuletzt wegen des gleichen Schicksals als Waisen umgehend
unzertrennliche Freundinnen.
Bis ein katastrophales Ereignis diese Freundschaft abrupt beendet und Alice lange im
Krankenhaus verweilen muss. Noch nicht volljährig, kehrt sie traumatisiert zur ihrer
Tante in England zurück. Wenige Monate später geht sie auf die Avancen von John
McAllister ein und heiratet ihn, obwohl sie nicht wirklich verliebt in ihn ist. Doch
ebenso bereitwillig folgt sie ihm, der in nicht näher definierten Regierungsgeschäften
steht, ins nordafrikanische Tanger.
Das Alles ist jedoch nur der Vorlauf von Christine Mangans Debütroman Nacht über
Tanger. Der setzt im Jahr 1956 ein, als Marokko kurz vor der Unabhängigkeit steht
und auch in der Hafenstadt quirlige Unruhe herrscht. Die die labile Alice genauso meidet
wie die Hitze und den Staub, weshalb sie sich völlig in ihrem Appartement verschanzt,
während Ehemann John seinen Geschäften nachgeht. Aber auch seinen Vergnügungen und das
auch noch auf Kosten seiner Frau.
Doch Ich-Erzählerin Alice erlebt bald eine Überraschung, denn plötzlich und unerwartet
steht Lucy vor ihrer Tür. Während Alice mit den Widrigkeiten wie auch mit Ängsten und
Einsamkeit in der Stadt kämpft, ist Lucy sofort begeistert vom wilden Treiben. Und sie
will offensichtlich die einstige Freundin wieder für sich gewinnen. John aber bemüht
sich nur kurz als Gentleman, denn Lucys Herkunft und Niveau erscheinen ihm unter seiner
oberklassenwürde.
Seine Haltung wird so offensichtlich, dass sie das Wiederaufleben der einst so engen
Freundschaft zwischen den jungen Frauen sogar beflügelt. Als zweite Ich-Erzählerin
eröffnet auch Lucy nun immer mehr Details dessen, was damals in Vermont passiert ist. Die
enge Beziehung der Beiden wird jedoch immer obsessiver, zumal Lucy wie offenbar schon
zuvor kontrollsüchtig und manipulativ ist und sich ein regelrechtes Psychoringen zwischen
ihnen entwickelt.
Das Wogen von Anziehung und Abstoßung vor dem Flirren der exotischen Stadt übt eine
starke Sogwirkung auf den Leser aus. Die sich noch steigert, als dann auch noch John
spurlos verschwindet. Hat er der besitzergreifenden Lucy im Wege gestanden? Aber
welcher der Ich-Erzählerinnen kann man wirklich trauen? Das und der Schauplatz sorgen
für ein fesselndes Lesevergnügen, wenngleich es nicht von großen Überraschungen lebt
sondern von der überzeugenden Mischung der Charaktere und ihrer verwinkelten Vita.
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