LEA SINGER: DIE POESIE DER
HÖRIGKEIT
Dorothea Sternheim, genannt Mopsa, ist zwölf, als sie dem Gast des Elternhauses, der sie
da mit dem kalten Stethoskop abhorcht, verfällt. Dieser Gast ist Dr. Gottfried Benn, in
diesen Tagen im Kriegsjahr 1917 noch Militärarzt, später dann Arzt für Haut- und
Geschlechtskrankheiten mit eigener Praxis.
Vor allem aber ist Benn am Beginn seiner Berühmtheit als ein Mann von wuchtig bis
wahnhaft expressiver Lyrik, die zutiefst unter die Haut geht. Für die Tochter von Thea
Sternheim und ihres Gatten, dem skandalträchtigen Dramatikers Carl Sternheim aber sind es
zunächst seine Stimme, seine kantige Aura und als unentrinnbare Markierung sein seltsam
erotischer Geruch, die ihn zum Mann ihres Lebens werden lassen.
Eine fatale Liebe, die von einer kurzen Affäre abgesehen nie ihre Erfüllung findet. Lea
Singer, berühmt für ihre Romanbiografien, hat daraus ihr jüngstes Werk unter dem Titel
Die Poesie der Hörigkeit geformt. Nichts anderes war diese Obsession, mit der
die so sehr zu überbordenden Gefühlen neigende Mopsa ein bewegtes, unstetes Leben bis
hin zu Drogenexzessen führte. Benn blieb trotz der kurzen Affäre unerreichbar, obendrein
hatte Mopsa im erfolglosen Begehren eine ungewöhnliche Rivalin an ihrer Seite
Mutter Thea war dem Dichter und Frauenfreund ähnlich verfallen.
Mopsa und sie verband nicht nur deshalb ein komplexes Verhältnis miteinander, während
ihr der eigene Vater später sogar sexuell nachstellte. Doch egal, welche Beziehungen
Mopsa zu vielen Männern wie auch zu Frauen auch unterhielt, keine konnte die dunkle
erotische Magie Benns ersetzen. Sie hat Erfolg als Bühnenbildnerin, hat nicht nur wegen
der Morphinsucht finanzielle Nöte und landet im Zweiten Weltkrieg, längst im Exil in
Frankreich lebend, sogar in Widerstandskreise, was sie schließlich ins KZ Ravensbrück
bringt.
Das überlebt sie zwar zur eigenen Verwunderung, doch ein Lebensglück ist ihr dennoch
nicht beschieden. Mit galligem Fatalismus empfängt sie schließlich mit gerade 49 Jahren
den Tod durch Unterleibskrebs. Und auch das beschreibt die Autorin mal poetisch, mal auch
drastisch, und durchgehend gewissermaßen aus Sicht der dem Sehnsuchtsmann Verfallenen wie
in einem Fieberrausch der Gefühle und des Verlangens.
Doch so romanhaft verwegen das Alles ist und durch eingestreute Gedichtfragmente
Benns zusätzlich dessen Faszination erahnen lässt dieses Werk beruht auf
Tatsachen und Lea Singer steht nicht nur als Sachbuchautorin unter ihrem Echtnamen Eva
Gesine Baur für intensive Recherche. Fazit: ein virtuoser Tatsachenroman mit gleich drei
fesselnden Hauptpersonen.
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