KARINE TUIL: DIE ZEIT DER
RUHELOSEN
Ein wahres Monster von Buch legt die französische Erfolgsautorin Karine Tuil mit ihrem
jüngsten, bereits für den Prix Goncourt nominierten Roman Die Zeit der
Ruhelosen vor. Schon der Einstieg hat es in sich, denn da stehen Soldaten im
Mittelpunkt, die nach ihrem Afghanistan-Einsatz eine Art Genesungsurlaub in einem
Luxushotel auf Zypern verbringen dürfen.
Traumatisiert findet hier Romain Roller keinen Schlaf, denn der 27-jährige Oberleutnant
konnte nicht verhindern, dass etliche seiner Leute dort draufgingen. Das Grauen, das er in
ruhelosen Reflektionen schildert, gipfelt in dem galligen Gedanken: Denn du kannst
das Elend dieser Welt in unzähligen Variationen kennengelernt haben, wenn du nicht in
Afghanistan warst, hast du nichts gesehen...
Erst in dieser Ruhezone kommt es zur geradezu explosiven Annäherung zu der attraktiven
Journalistin Marion Decker, obwohl sie doch den Einsatz begleitet hatte. Es ist
beiderseits sofort eine heftige Liebe, doch die 28-Jährige ist die Ehefrau eines der
reichsten Wirtschaftsbosse Frankreichs. Allerdings war das Verhältnis zwischen ihr und
diesem charismatischen Francois Vély von Beginn an kompliziert. Unnahbar, verlockend und
zugleich schwierig und der 51-Jährige verfällt ihr so rückhaltlos, dass er die
Mutter seiner drei Kinder, die ehemalige Schauspielerin Katherine, fünf Jahre älter als
er, in ihre australische Heimat zurückschickt. Mit drastischen Folgen, als er ihr die
baldige Heirat mit Marion verkündet.
Aber auch sonst steht die Hochzeit, die Marion zugedröhnt hinter sich bringt, unter
keinem guten Stern. Zumal sich Vély dann auch noch einen fatalen Fehler leistet, der ihn
einerseits als als Sexisten und Rassisten brandmarkt und ihn auch noch als Juden outet.
Tatsächlich war sein Vater, der Firmengründer, sogar im KZ gewesen, doch das Judentum
hatte schon er mit der Änderung des Namens Levy gänzlich abgelegt.
Nun aber wird Vély gewissermaßen vor aller Welt aus dem großbürgerlichen Kosmos mit
seinem Kastendenken katapultiert. Hinzu kommt seine Fassungslosigkeit, als er von der
Affäre seiner luxusverwöhnten Marion mit dem gewöhnlichen Soldaten Romain erfährt.
Doch es eröffnet sich noch eine andere gesellschaftliche Ebene mit Osman Diboula, einem
Außenseiter, der es als eine Art Quoten-Schwarzer bis in die ganz hohe Politik geschafft
hat.
Die Unruhen der Pariser Banlieus von 2005 waren seine Sternstunde, denn als Streetworker
wurde er dort zum Helden. Und mit dem schmückte sich dann der Staatspräsident, indem er
ihn in seinen engsten Beraterkreis holte. Aber obwohl ihm selbst die afrikanischen Wurzeln
völlig gleichgültig sind, entgeht er dem latenten Rassismus auch in diesen Kreisen
nicht. Wo sich der Überehrgeizige dann prompt selbst aus der Wohlfühlzone des
gesellschaftlichen Aufstiegs abschießt, als er sich durch eine rassistische Provokation
zu einem Ausraster an falscher Stelle hinreißen lässt.
Mit gnadenloser Klarsicht und ätzendem Realismus verwebt die Autorin die Wege dieser vier
Protagonisten miteinander zu einer donnernden griechischen Tragödie mitten in der
Wirklichkeit unserer Gegenwart. Und sie bringt alle Beteiligten in den Irak zu einem
Finale, das einen jeden an Abgründe führt. Wie sie durch eigene Hybris aber noch mehr
als Spielbälle schicksalhafter Anstöße diesen Seiltanz bestehen sollen und doch
scheitern müssen, soll hier nicht verraten werden.
Das ist packend, ja, halsbrecherisch dank einer virtuosen Dramaturgie und der zupackenden
Sprache. Sämtliche Charaktere überzeugen in ihrem Glanz wie auch in ihrem Versagen und
Scheitern. Fazit: ein grandioser Gesellschaftsroman von faszinierender Meisterschaft, der
den Leser atemlos unhd nachdenklich zurücklässt.
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