RAMITA NAVAI: STADT DER
LÜGEN
Eines möchte ich von vornherein klarstellen: Wenn man in Teheran leben will, muss
man lügen. Das hat nichts mit Moral zu tun; in Teheran lügt man, um zu überleben.
Mit diesen Worten beginnt Ramita Navai das Vorwort zu einer wahrhaft atemberaubenden
Reportage.
Stadt der Lügen lautet der Titel und der Untertitel wirkt schlichtweg
reißerisch: Liebe, Sex und Tod in Teheran. Ganz entscheidend ist jedoch, dass
die Autorin eine preisgekrönte Journalistin ist, die von 2003 bis 2006 als
Korrespondentin der Londoner Times in der iranischen Hauptstadt akkreditiert
war.
Auch als die Zulassung entzogen wurde, arbeitete sie noch eine Weile als Lehrerin in der
Stadt und begann mit der Sammlung ihrer Geschichten. Die allesamt auf Tatsachen beruhen,
wenngleich sie aus naheliegenden Gründen Namen, Details und manche direkten
Zusammenhänge verschleiern musste. Ihr großer Vorteil war, dass sie als Tochter eines
Offiziers der kaiserlichen Marine zwar als Kind mit der Familie 1979 bei Ausbruch der
Islamischen Revolution nach England geflohen war, aber trotz allem Iranerin mit
einschlägigen Sprach- und Lokalkenntnissen blieb.
Das erklärt auch, wie sie in Kreise eindringen und manch heiklen Gesprächspartner
interviewen konnte, für die ein Auffliegen mit Haft, Folter, Vergewaltigung und langsamem
Tod enden konnte. Immerhin haben die geistlichen Herrscher einen rigorosen Kontrollstaat
errichtet, bei dem Infiltration und Hineindirigieren bis ins Intimste zum System gehören.
Einige der acht Berichte lesen sich einfach nur skurril, wenn da junge Frauen entweder nur
anal verkehren, um ihre für eine Eheschließung unverzichtbare Jungfräulichkeit zu
bewahren. Oder dieselbe durch gut verdienende Ärzte wiederherstellen lassen. Ein anderer
lukrativer Trend für Mediziner ist die bei Jugendlichen sehr populäre Korrektur der oft
kräftigen Nasen. Zum Einstieg serviert die Autorin jedoch aus heiklen Quellen die Vita
eines US-Iraners, der als Kurier einer Untergrundorganisation in den Iran geschleust
wurde. Diese MEK versucht nicht weniger, als das Regime der Geistlichen zu stürzen.
Schier unglaublich aber offenbar allesamt wahr sind dann die Berichte aus der offiziell so
rigoros frommen Gesellschaft, die von Bigotterie, Verlogenheit, Verderbtheit und
allgegenwärtiger Korruption durchsetzt zu sein scheint. Da wird ein Mullah erwischt, der
junge Mädchen vernascht und endlich angezeigt wird, als er eine 14-Jährige schwängert.
Der Polizeichef aber macht wenig Hoffnung auf eine Verurteilung eines solch hochstehenden
Geistlichen. Ein noch mächtigerer Geistlicher treibt es mit dem schiitischen Pragmatismus
und nutzt dazu die korangemäße Ehe auf Zeit. Bei dieser ultimativen Form
klerikaler Heuchelei wird eine Art Kurzehevertrag aufgesetzt, der selbst für Quickies
möglich ist. Die Frau muss allerdings unverheiratet sein, denn sonst wäre es ja
Ehebruch.
Tatsächlich hat Ramita Navai entlang der zentralen Valiasr-Straße vom wohlhabenden
Norden bis in den ärmlichen Süden der Zwölfmillionenstadt einen unter der
gottesfürchtigen Decke virulenten Sündenpfuhl vorgefunden, der einem den Atem
verschlägt. In Teheran ist es unmöglich, nicht mit Sex in Berührung zu
kommen. Doch neben wilden Glitzerparties, Drogen, Alkohol und Prostitution findet
sich auch viel Bandenkriminalität. Oder die der Basidschi, unberechenbarer
paramilitärischer Freiwilligenmilizen des Mullah-Staates.
Fast nichts an Ausschweifungen scheint hier unmöglich, doch es wird auch deutlich, auf
welch tönernen Füßen diese Lügengebäude stehen. Denunziation und Verrat können
Einzelne oder ganze Gruppen von einem Moment auf den anderen ins Verderben stürzen und
das zumeist mit barbarischen Folgen. Die Autorin schildert diese dunklen, geheimen Aspekte
des verborgenen dekadenten Lebens dieser uns so fremden Stadt mit schnörkelloser und
teils auch drastischer Sprache. Und sie tut es ebenso rasant wie unterhaltsam, untermauert
die zuweilen haarsträubenden Darlegungen dabei auch mit Statistiken, Pressemeldungen und
konkreten Details des Staatswesens. Hinzu kommt dann noch ein Schuss schwarzen Humors der
grimmigen fatalistischen Art, ohne den dieser ständige Tanz auf hauchdünnem Eis
vermutlich kaum zu ertragen wäre.
Fazit: als Insiderin enthüllt Ramita Navai hier die Metropole des Gottesstaates Iran
voller sozialer, politischer, sexueller und religiöser Widersprüche. Ein seltsam
faszinierender Blick hinter schmuddelige Kulissen, nach dessen Lektüre man wahrlich froh
ist, nicht in dieser Stadt und in diesem System leben zu müssen.
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