PAUL
AUSTER: BERICHT AUS DEM INNEREN
In seinem hochklassigen autobiographischen Buch Winterjournal reflektierte
Paul Auster über sein Leben und insbesondere über seine Beziehungen zu den beiden
Ehefrauen. Dank seiner Sprachgewalt und seiner schonungslosen Offenheit geriet das Werk zu
einem vielbeachteten Erfolg.
Nun lässt der New Yorker Literat, der immer wieder auch als Kandidat für den
Literaturnobelpreis genannt wird, diesem Rückblick einen zweiten folgen. Auch
Bericht aus dem Inneren ist wieder in der Distanz gebenden 2. Person Singular
geschrieben, diesmal geht er jedoch viel weiter zurück bis in die Kindheit. Und
fasziniert nicht nur sprachlich schon gleich mit dem ersten Satz: Am Anfang war
alles lebendig. Womit all die Gegenstände gemeint sind, die für das Kind eine
eigene Seele haben, wo Scheren gehen konnten und selbst Wolken einen Namen hatten.
1947 in Newark nahe New York geboren, wächst er im Amerika der 50er Jahre auf, verbringt
einen großen Teil seiner Kindheit im elterlichen Haus in der Vorstadt, ganz und gar
typische US-Mittelschicht. Mögen die ersten Jahre auch ohne nennenswerte psychische
Belastungen verlaufen sein, vermittelt das spätere Scheitern der offenbar ohnehin nie
innigen Ehe seiner Eltern gewichtige Auswirkungen. Diesem langsamen Zerbröseln der
privaten Welt steht die scheinbar heile Kraft der USA entgegen, der machtvollen Heimat, in
der alles gut und wohl geordnet scheint.
Um so spannender lesen sich die Momente der Bewusstwerdung, wenn er erkennen muss, dass er
nicht nur kein richtiger kleiner Amerikaner ist, sondern seine Eltern jüdische
Einwanderer sind. Und er damit auch etwas Anderes, ein Jude. Und dass Juden im
amerikanischen Leben keine Rolle spielen bis hin zur Unsichtbarkeit und konkrete
Ausgrenzungen bis hin zu Zulassungsquoten am College gehen.
Doch es sind ja nicht nur die ganz privaten, familiären Erlebnisse und Eindrücke, die
sich so in das Bewusstsein eines Kindes einnisten, dass sie das Ich fürs Leben
mitprägen. Hier sind es die Bücher, die er verschlingt, aber ebenso ein Film wie die
Original-Version von Krieg der Welten. Wer diesen für die 50er Jahre wahrhaft
spektakulären Film einmal gesehen hat, kann vielleicht erahnen, wie tief und nachhaltig
er das Gehirn eines damals Sechsjährigen unvergesslich beeinflusst haben muss.
Auster lässt diese Kindheitserinnerungen mit zwölf Jahren ausklingen, weil dann die
Pubertät einsetze. Auffallend ist dabei, wie sehr er sich dabei aufs Erinnern und
Reflektieren verlassen muss, denn er kann auf so gut wie keinerlei Überbleibsel aus jenen
Jahren zurückgreifen. Offenbar ist es den Scheidungsfolgen geschuldet, dass sich keine
Schriftstücke und Fotos aus Kindertagen finden ließen und diese Zeit bemerkenswert
schlecht dokumentiert ist.
Was er stattdessen als nachempfindbare Zeugnisse für die Prägung des Ichs ausführt,
sind zwei ausführliche Schilderungen von bekannten Filmen, die in der Tat geeignet waren,
dauerhaft im Bewusstsein eines Heranwachsenden nachzuwirken. Zum Einen erzählt er
Die unglaubliche Geschichte des Mister C (1957, Regie Jack Arnold), ein
düsterer ScienceFiction-Film um einen angedeuteten Strahlenunfall, durch den ein Mann
unaufhaltsam schrumpft und schließlich atemberaubenden Überlebenskämpfe durchstehen
muss.
Da konnte bei einem sensiblen und fantasievollen Jungen von zehn jahren die unentrinnbare
Identifikation mit dem Unglücklichen kaum ausbleiben. Um wie viel mehr musste dann das
Drama um einen Kettensträfling wie Jagd auf James A (1932, Regie Mervin
LeRoy) mit seiner ebenso aufwühlenden wie empörenden Ungerechtigkeit sich niedersetzen.
Nach diesen souveränen Darstellungen hätte Austers Rückbesinnung auf seine Kindheit das
Buch beschließen sollen, doch ein unerwarteter Glücksfall machte eine Forschreibung
möglich. Seine erste große Liebe und kurzzeitige Ehefrau Lydia Davis (1974-1978) bot ihm
die Überlassung von rund 100 aufbewahrten Briefen an, die er damals an sie verfasst
hatte. Sie bieten nun in großer Ausführlichkeit nicht nur einen sehr authentischen
Einblick in seine damaliges Denken und Empfinden, sie zeigen vor allem auch seine Art zu
schreiben in jenen noch wilden Jahren vor dem Durchbruch als Autor.
Fazit: se wenig persönliche Fotos es auch von ihm selbst geben mag, ein persönlicheres
Bild vom Werden seines Ichs ist kaum vorstellbar. Dass es bei einem Meister des Wortes wie
ihm auch fern jeder Banalität selbst in Details bleibt, ist selbstverständlich.
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