WYNN/COOLIDGE: "DENKEN WIE EIN NEANDERTALER"

Die Neandertaler lebten etwa von 200.000 bis 30.000 v. Chr. und waren in Entwicklung und Erscheinung nur sehr entfernte Verwandte unseres Vorfahren, des Homo sapiens. Genetisch jedoch waren sie uns zu 99,8 Prozent gleich. Hatten sie also auch eine Intelligenz und Wahrnehmungsfähigkeit wie die Frühmenschen?

Unter dem provokanten Titel "Denken wie ein Neandertaler" haben sich die Wissenschaftler Thomas Wynn und Frederick L. Coolidge diesem Thema mit einem tiefschürfenden Sachbuch gewidmet, das faszinierende Schlussforlgerungen eröffnet. Wynn als Professor für Anthropologie und Coolidge als Professor für Psychologie, beide an der University of Colorado, Colorado Springs, untersuchten dafür die Kognitionsevolution der prähistorischen Völkerschaft auf der Grundlage der aktuellsten Neandertaler-Forschung.

Ihr Ziel war die Darstellung des geistigen Lebens der Neandertaler, soweit dies seriös rekonstruierbar ist. In typisch angelsächsischer Qualität tun sie dies bei allem wissenschaftlichen Anspruch höchst unterhaltsam und mit Sinn für den ein oder anderen humorvollen Ansatz. Schon die Beschreibung der äußeren Erscheinung überzeugt bei der Frage, ob wir einen Neandertaler in heutiger Kleidung auf Anhieb erkennen würden. Man müsste vermutlich "unangenehm genau" hinstarren, um Merkmale wie den großen Kopf mit den Augenwülsten sowie den gedrungenen Körper mit dem gewaltigen Muskelbau als Nicht-Homo sapiens einstufen zu können. Wobei manche Merkmale der physischen Andersartigkeit im Übrigen weniger genetisch als vielmehr durch die harte prähistorische Lebensweise bedingt wären.

Mit vielen klugen Fragen und ebensolchen Antworten folgen nun auf der Basis des sehr umfangreichen Faktenwissens verblüffende Gedankenexperimente zu den Lebens- und Verhaltensweisen dieser Wesen, deren reine Gehirnmasse zehn Prozent größer war als die der Menschen. Frappierender Schluss der Wissenschaftler zum Intelligenzquotienten: die Neandertaler waren sowohl intelligenter als auch dümmer als wir. Wobei ihre Intelligenz aber vor allem eine anders geartete ist.

Langzeit- und Arbeitsgedächtnis waren eher ungeeignet für die differenzierte Nutzung von Erfahrungen und die Knochen- und Steinwerkzeugfunde lassen wenig Innovationstalent zum Beispiel bei der Jagd erkennen. Gleichwohl waren die von ihnen erfundenen Speere mit den fest verbundenen Steinspitzen eine echte technische Erfindung von beachtlicher handwerklicher Fertigkeit.

Das Leben fand überwiegend stationär mit geringem Bewegungsradius statt und die kleinen, auf die Familie beschränkten Gruppen kannten auch offenbar so etwas wie soziale Fürsorge. Aber ebenso zwischenmenschliche Gewalt, wie sich auch die Clans untereinander eher bekämpften statt einen sozialen Erfahrungsaustausch miteinander zu betreiben. Eine einfache Sprache vermuten die Autoren zwar, sie halten das Vorhandensein von Vorstellungskraft, Träume oder gar Humor allerdings für wenig ausgeprägt.

Mögen die Neandertaler auch begrenzt lernfähig gewesen sein, komplexes und unkonventionelles Denken wird eher bezweifelt, so dass es keine nennenswerte Fortentwicklung gab. Was sich als gravierender Nachteil bei massiven äußeren Veränderungen wie während der großen Eiszeiten und noch mehr beim Erscheinen des Homo sapiens in seinen Lebenszonen erwies.

Trotz einiger tausend Jahre des Nebeneinanders im europäischen Raum unterblieb jeglicher genetischer und technischer Austausch und schon die überlegene Gruppenbildung wie auch die intelligente Anpassungsfähigkeit der eingewanderten Homo sapiens waren ausschlaggebend, dass sich die Spuren der letzten Neandertaler schließlich auf der iberischen Halbinsel einfach verloren.

Die Wissenschaftler belegen auf fesselnde Weise eine gänzlich eigene Evolutionsgeschichte dieser Humanoiden, bei denen sich viele Merkmale von denen des Frühmenschen unterscheiden. Um so überraschender sind die abschließenden Mutmaßungen der Autoren über den Neandertaler als angenommenen heutigen Zeitgenossen - mit Fähigkeiten für einen guten Mechaniker und vielleicht sogar zum Arzt wäre er aufgrund des hergebrachten Mangels an Flexibilität und Kommunikationseigenschaften aber nur wenig lernfähig und womöglich ein ziemlich humorloser Kunstbanause.

Fazit: ein anspruchsvolles und zugleich sehr unterhaltsames Sachbuchvergnügen zu einem komplexen Thema voller spannender Rätsel.

 

# Thomas Wynn/Frederick L. Coolidge: Denken wie ein Neandertaler (aus dem Englischen von Cornelius Hartz); 288 Seiten, div. Abb.; Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt/Mainz; € 29,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: SB 318 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de