ALIX OHLIN: "IN EINER ANDEREN HAUT"

Das Phänomen Helfersyndrom steht im Mittelpunkt von Alix Ohlins neuem Roman "In einer anderen Haut". Die kanadische Erfolgsautorin stellt dazu gleich vier Protagonisten vor, die auf sehr verschiedene Weise ihr mangelndes Selbstwertgefühl dadurch überdecken oder überwinden wollen, indem sie sich scheinbar selbstlos für andere aufopfern.

Es beginnt mit Grace, Mitte 30, geschieden und von Beruf Psychotherapeutin. Beim Ski-Langlauf stößt sie auf einen bewusstlosen Mann, der offensichtlich soeben versucht hat, sich zu erhängen. Sie bleibt bei ihm, als er ins Krankenhaus gebracht wird und sie lässt sich auf eine ominöse Lügengeschichte ein, als dieser John "Tug" Tugwell" dem Arzt gegenüber so tut, als sei sie seine Frau und der Vorfall nur ein Test gewesen.

Das ist ebenso unprofessionell wie die Nacht, die die einsame, überengagierte Therapeutin aus falsch verstandener Fürsorglichkeit bei ihm zu Hause verbringt. Ihr Angebot, ihm zuzuhören, wenn er reden wolle, ignoriert er und er bleibt auch sonst sehr verschlossen. Selbst, als sie eine Beziehung miteinander beginnen, bleibt lange im Verborgenen, welches sehr reale Grauen ihn seelisch so zerbrochen hat.

Aber da ist auch die 16-jährige Annie aus einer gut situierten Akademikerfamilie, die seit langem bei Grace in Behandlung ist. Sie neigt zu autoaggressiven Verhaltensweisen und provoziert sadistische Übergriffe, weil sie an ihren gefühlskalten, autoritären Eltern leidet. Sie findet schließlich auf eher ungewöhnliche Weise Hilfe, indem sie sich spurlos nach New York absetzt, um dort eine mittelmäßige Schauspielerin zu werden. Zu ihrer Selbstfindung gehört jedoch gleichfalls ein Akt des Helfersyndroms, indem sie ein streunendes Pärchen vor der Obdachlosigkeit bewahrt.

Aber auch Mitch, der Ex-Mann von Grace, passt ins Bild, auch er von Beruf Psychotherapeut. Er geht allerdings noch viel weiter in seinem Zwang, Mitmenschen zu retten. Er verlässt sogar seine zweite Frau, um einer Inuit-Gemeinde in der Arktis mit ihren Alkohol-Problemen zu helfen. Als sich jedoch einer seiner Schützlinge im Suff selbst umbringt, kehrt Mitch nach Kanada heim, nun ein gänzlich gebrochener Mann.

Das Geschehen zieht sich insgesamt über zehn Jahre hin und immer wieder gibt es Querverbindungen. Was jedoch alle Vier, deren Charaktere sehr feinfühling gezeichnet werden, eint, ist ihre unstillbare Suche nach Nähe und Anerkennung. Zugleich aber wird das Wahnhafte daran spürbar, mit dem sie versuchen, die Menschen, denen sie helfen wollen, damit auch abhängig von sich zu machen. Das muss tragisch enden, zumindest aber traurig, und Alix Ohlin hat aus dieser anspruchsvollen Konstellation einen sensiblen Roman mit einer Menge melancholischer Lebensweisheit gemacht.

 

# Alix Ohlin: In einer anderen Haut (aus dem Englischen von Sky Nonhoff); 351 Seiten; C. H. Beck Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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