RALPH DOHRMANN: "KRONHARDT"

Seit dem Kaiserreich existiert die traditionsreiche Bremer Stickerei-Manufactur der ehrenwerten Familie Kronhardt. Auch im Dritten Reich hat sie prächtig floriert, nun in der Nachkriegszeit ist Gründer-Enkel Willem als Einzelkind hinzugekommen.

Dessen Leben von der Kindheit und Jugend in den Wiederaufbaujahren bis in die Zeit nach der Wiedervereinigung stellt Ralph Dohrmann in den Mittelpunkt seines epochalen Romans "Kronhardt". Als Familienerbe steht Willem ganz unter der diktatorischen Fuchtel seiner dünkelhaften Mutter und die pflegt ein fanatisches Leistungsethos, das ungeniert vom soeben durchlebten reaktionär-faschistischen Geist geprägt waltet. Und wenn sie Anwandlungen von Demokratie und Amerikanismus verachtet, findet sie darin die volle Unterstützung von Onkel Kronhardt, Willems Stiefvater.

Der ist der weit weniger talentierte Bruder des kunstsinnigen Vaters, der zu Nazi-Zeiten ins Exil weichen musste und nach seiner Heimkehr recht bald das Zeitliche segnete. Sein Tod gilt allerdings als Familiengeheimnis und jede Erwähnung wird als Tabubruch unterbunden. Es tun sich jedoch bald krasse Gegensätze in Willems Leben auf, denn in der Schule sucht er geradezu die Nähe zu nicht standesgemäßen Kindern und begibt sich immer wieder auf kleine Fluchten aus der drakonischen Willkür der Mutter.

Die kommt ihm anfangs stets auf die Schliche, doch Willem lernt bereits in diesen kindlichen Jahren, wie man nach außen anders erscheinen kann, als man in Wahrheit denkt. Hier ist es sein Kinderarzt Dr. Blask, der ein Leitmotiv für Willems ganzes Leben ausspricht, als er ihm die Hand an die Stirn legt: "Niemand kann wissen, was wirklich da drinnen ist." Und der Junge findet seine Freiräume ganz intensiv in der Natur, doch das bleibt nicht das einzige Rückzugsfeld seiner inneren Emigration, mit der er sich Mutters Regime entzieht.

Zugleich beugt er sich scheinbar den gestellten Anforderungem, als er schließlich Betriebswirtschaft studiert. Und dann hat er das Glück des Cleveren, als er in der Tuchhändlerin Barbara die ideale Frau heiratet. Sie kommt mit ihrer ehrgeizigen Geschäftstüchtigkeit nicht nur gut bei Mutter Kronhardt an, sie lässt sich auch auf ein sehr angenehmes Arrangement ein: sie hat freie Hand im Unternehmen und er muss sich der Firmenleitung nur halbtags widmen.

Den Gipfel der von Jugend an angestrebten Selbstbestimmtheit gewährt ihm zudem der Umstand, dass er zeugungsunfähig ist. Auch die Einengung durch einen Stammhalter bleibt ihm somit erspart und er kann seine Individualität still aber doch auch ungehemmt entfalten. Bei all dem durchlebt Willem die engherzigen biedersinnigen Adenauer-Jahre, wobei stets auch die Stadt Bremen mit wichtigen Aspekten eingeschlossen ist, und es kommen die Aufbruchzeiten der 68er bis hin zu den geldgierigen 80ern.

Doch dieser Entwicklungsroman reicht schließlich nicht nur in die Zeit der Wende hinein, es beginnt auch Willems Suche nach der Wahrheit um den Tod seines Vaters. Hier kommen die Detektive Ramow & Ramow ins Spiel und geben dem Geschehen einen zuweilen skurrilen aber auch spannenden Effekt. Während die Aufdeckung der Wahrheit eher enttäuscht, sorgt die immer wieder eingeflochtene Geschichte um den Fund eines "Georgischen Schädels" aus grauer Vorzeit für eine Art kauzigen Running Gag.

Und bei diesem sehr eigenen und doch realen Kosmos aus über 60 Nachkriegsjahren soll ein Protagonist nicht unerwähnt bleiben: von Wrangel, der wie ein Mephisto geradezu größenwahnsinnig in die Weltgeschichte hineinspielt und diese damit in die Vita des Willem Kronhardt hineinbringt.

Dieses gediegene Epos lebt jedoch nicht nur von seinen vielfältigen Ereignissen. Ralph Dohrmann hat eine hanseatisch kühle und dennoch in den richtigen Passagen auch poetische Sprache mit manchen beeindruckenden Metaphern und Bildern gefunden, die zuweilen an jene Thomas Manns erinnert, nur dass sie etwas kantiger, heutiger daherkommt. Zu bewundern ist dabei die subtile Spannung, die seine ruhige, unaufgeregte und zugleich sehr präzise Art des Erzählens durchzieht. Fazit: das ist große Literatur für Genießer virtuoser Sprachgewalt in einer souverän erzählten Geschichte vor realem Hintergrund.

 

# Ralph Dohrmann: Kronhardt; 920 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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