LIONEL SHRIVER: "DIESES LEBEN, DAS WIR HABEN"

"Dein ganzes Leben, Shepherd, dreht sich doch nur um Geld!" Dieses harsche Urteil von Ehefrau Glynis stimmt in gewissem Maße und ist dennoch nicht gerecht. Immerhin ermöglichte sein unermüdliches Schaffen mit seinem kleinen Betrieb, dass sie sich eine wenig einträgliche Karriere als Silberschmiedin leisten konnte.

Während die Ehe längst zur lieblosen Zweckgemeinschaft geworden ist, arbeitet der pflichtbewusste Shep auf seinen großen Traum am Ende des Arbeitslebens hin: irgendwo hinzugehen, um fern der USA in einem jahrelang ausgeklügelten bescheidenen Paradies zu leben. Die Wahl fiel schließlich nach allen Erwägungen auf die Insel Pemba vor der ostafrikanischen Küste.

Das ist die Ausgangssituation in Lionel Shrivers neuem Roman "Dieses Leben, das wir haben". Shep hat nun alles vorbereitet, die Firma für eine Million Dollar verkauft und die Tickets für sie beide und den noch schulpflichtigen Sohn Zach geordert. Sein Entschluss steht fest und das auch für den Fall, dass Glynis ihr Mitkommen verweigern sollte.

Doch mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet, als er die Koffer gepackt hat: "Mir wäre es lieb, wenn du das nicht tätest. Ich fürchte, ich werde deine Krankenversicherung brauchen," erklärt sie ihm geradezu beiläufig. Der Grund aber ist ein Schock, denn bei ihr ist ein Mesotheliom festgestellt worden, ein bösartiger Bindegewebstumor. Aus der Traum vom exotischen Altersrefugium und wie eine Buße nimmt Shep die Herausforderung an, seiner Frau beizustehen und sie zu pflegen.

Und kleinlaut kehrt Shep in seine ehemals eigene Firma zurück wegen all der finanziellen Belastungen, die nun drohen - in den USA mit ihrem dürftigen und fast gänzlich privat organisierten Krankenversicherungswesen mit besonderer Wucht. Mit ihm fängt auch sein bester Freund und ehemaliger Mitarbeiter Jackson wieder an. Er jedoch hat seinen wirtschaftlichen Aderlass selbst verschuldet: durch eine unsinnig teure und obendrein noch verpfluschte Operation zur Penisverlängerung. Womit er auch sein gemütlich vor sich hinplätscherndes Familienleben samt einer körperlich beeinträchtigten Tochter vor die Wand fährt.

Geschickt flechtet die Autorin diese zweite Ebene mit Jackson und seiner Carol in den Erzählstrom ein. In dem der Umgang mit der Krankheit aber ebenso im Mittelpunkt steht wie die Wandlungen der Beziehung zwischen allen Beteiligten, allen voran Shep und Glynis. Wie sie unter dem Krebs aber auch dessen Behandlung leidet und zugleich voller Sarkasmus damit hadert, das geht tief unter die Haut, denn vieles kommt gallebitter daher.

So hart die Situation sich auch entwickelt, Shep erweist sich als hingebungsvoll fürsorglich und ihr Miteinander erfährt eine neue Qualität und Intensität. Dennoch gibt es keine Rührseligkeit, vielmehr ist dieser große Familienroman brutal ehrlich und unsentimental mit klarsichtiger, teils bissiger Ironie geschrieben und die Autorin nennt auch unangenehmste Dinge beim Namen. Während die beeindruckende Glynis mit ihrer von jeher etwas boshaften Ader überhaupt keinen Grund für Zurückhaltung in ihren Bewertungen sieht, zeigt sich ein anderes sehr typisches Phänomen bei schwerer Krankheit - der Rückzug von Freunden und selbst Verwandten, deren Anteilnahme zerbröselt.

Doch Shep erlebt nicht nur die Erniedrigungen durch seinen Chef Pogatchnik, der sich als knallharter menschenverachtender Kapitalist präsentiert. Viel schlimmer - und allgemeingültiger - ist das Verhalten seiner Schwester Beryl, denn die Geschwister hatten sowieso ein familiäres Problem, weil der 80-jährige Vater nach einem Oberschenkelhalsbruch in einem teuren privaten Pflegeheim liegt. Der brüske Egoismus Beryls, die gar nicht daran denkt, dem Bruder diese Bürde ein wenig zu erleichtern, zwingt den braven Shep zu einer unmenschlichen Entscheidung - den Vater deutlich schlechter unterzubringen, um genügend Mittel für Glynis' Behandlung übrig zu behalten.

Die ungemein belastenden Probleme mit der Krankheit erhalten unter US-amerikanischen Verhältnissen natürlich eine noch viel dramatischere Ausformung. Das wie auch andere Missstände im dortigen System breitet die Autorin in etlichen bissigen Dialogen aus und so versteht man auch, warum Barack Obamas an sich überfällige Gesundheitsreform von manchen Seiten als sozialistisches Teufelswerk bekämpft wird. Ohnehin gehört zu den großen Themen dieses Romans ganz explizit jenes, welchen Wert und Sinn das Leben hat.

Wenn das Ganze trotz all dieser schwergewichtigen Sujets keineswegs niederdrückt sondern bis zuletzt fesselt und begeistert, dann nicht nur wegen des ebenso überraschenden wie gelungenen Finales, sondern vor allem auch wegen des Humors, der immer wieder für grimmige Erleichterung sorgt. Die Charaktere sind grandios gezeichnet, die Sprache ist brillant und realistisch und der gesamte Roman unbedingt filmreif. Fazit: ein anspruchsvolles Stück Literatur, in dem ein durchaus nicht ungewöhnliches Leben sein ganzes Füllhorn an Herausforderungen ausschüttet.

 

# Lionel Shriver: Dieses Leben, das wir haben (aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz); 540 Seiten; Piper Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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