LINDA STIFT: "KEIN EINZIGER TAG"

Eine engere Beziehung als die zwischen siamesischen Zwillingen ist wohl nicht denkbar. Paul und Paco waren solche zusammengewachsenen eineiigen Zwillinge, bis man sie im Alter von fünf Jahren trennte. Während der introvertierte Paul die medizinisch problemlos verlaufene Trennung als Befreiung empfand, hat der extrovertierte Paco die Abspaltung von seinem Bruder nie so recht akzeptiert. Paul sah sich sogar gezwungen, sich der Anhänglichkeit Pacos durch mehrfache heimliche Wohnungswechsel zu entziehen.

Das ist die Vorgeschichte von Linda Stifts neuem Roman "Kein einziger Tag". Gut zwanzig Jahre sind vergangen und Paul führt ein beschauliches Leben mit einem kleinen Geschäft, einer eigenen Wohnung und der mäßig innigen Beziehung zu Jenny. Da platzt Paco, der als mittelmäßiger Fernsehschauspieler zu Dreharbeiten in der Stadt weilt, unvermittelt wieder in sein Leben. Nach einem gemeinsamen Besäufnis geschieht das Fatale: Paco gelangt zum Übernachten in Pauls Wohnung.

Und von nun dringt er wieder in Pauls Leben ein, von Tag zu Tag mehr. Der wehrt sich hilflos voller Wut und Ekel vor dieser sich wie eine Krankheit ausbreitenden Unmittelbarkeit brüderlicher Nähe. Jenny aber ist begeistert vom narzisstischen Paco und erliegt bald nicht nur seinen kulinarischen Verführungskünsten. Um so beklemmender liest es sich, wie der ohnmächtige Hass bei Ich-Erzähler Paul allmählich der Resignation weicht.

Was kann man gegen eine solch anmaßende Klette von Bruder tun, der das Recht auf freie Selbstbestimmung brachial auf Null zurückzuführen imstande ist? Wieso wird Paul zum Versager, der es nicht fertig bringt, den selbstherrlichen Paco mit seinem obsessiven Drang zur Nähe einfach rauszuwerfen? Doch wenn nun zunehmend Mitgefühl für den Sanftmütigen aufkommt: dies ist ein Thriller und es eröffnen sich ungeahnte Abgründe!

Auch Paul hat eine sprichwörtliche Leiche im Keller, nur dass dieses geheimgehaltene Wesen lebt und offenbar ebenfalls mysteriösen Begierden dient - von denen wir allerdings kaum etwas erfahren. Und so treibt dieser Zwillingskonflikt mit subtilem Grauen auf ein abgefeimtes Finale zu. Während Paul zunehmend in Panik verfällt, schafft Paco den Weg in eine obskure Fernseh-Show, deren Gewinner eine Gratis-Schönheitsoperation nach eigener Wahl in Anspruch nehmen darf.

Mehr sei nicht verraten von diesem kleinen, gemeinen Roman über extreme Distanz und extreme Nähe, der ohne spektakuläre Horrorszenen aber mit einem kalten Hauch zu einem meisterhaften Gruselvergnügen verhilft.

 

# Linda Stift: Kein einziger Tag; 173 Seiten; Deuticke Verlag, Wien; € 16,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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