PETER WAWERZINEK: „RABENLIEBE"

Mein Leben kennt keine andere Jahreszeit als den Winter." Das ist einer der vielen schmerzlichen Sätze in Peter Wawerzineks Roman „Rabenliebe", für den er mit einem Auszug bereits den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis errang. Doch es ist nicht nur die wuchtige Prosa, die eine zwingende Nähe zum Ich-Erzähler schafft und tief unter die Haut geht mit ihren Schilderungen einer fast lebenslangen Muttersuche, wenn einem beim Lesen zuweilen verstört der Atem stockt, denn – dieser Roman ist keine Fiktion!

Peter Runkel, wie Wawerzinek 1954 bei seiner Geburt in Rostock noch hieß, war zwei Jahre alt, als die sehr junge Mutter ihn und seine ein Jahr jüngere Schwester einfach hinter sich ließ, um in den Westen zu flüchten. Mit Mühe nur überleben die von Nachbarn gefundenen verwahrlosten Kinder und nun beginnt für den Jungen eine Odyssee durch drei Kinderheime an der Ostsee, geprägt von Herzlosigkeit, Bitternis und dieser immer bewusster werdenden „Todeskälte der abwesenden Mutter".

Mögen sich Misshandlunegn auch in Grenzen gehalten haben, so wurden andererseits vage Ansätze von Freundschaften und Vertrauensbildung durch abrupte Adoptionen zerstört, die obendrein noch von brachialen seelischen Fußtritten begleitet sind und scheitern. Aber auch als der Junge dank seiner gute Schulnoten doch noch von einem ehrgeizigen linientreuen Lehrerehepaar endgültig adoptiert wird, bleiben ihm Geborgenheit und Verständnis versagt und der Ich-Erzähler fragt verbittert: „Wie durfte nur eine so unerhört eitle Person wie meine Adoptivmutter Herrscherin über ein Kind werden, eine selbst unterentwickelte Persönlichkeit."

Aber ist sie schlimmer als die desertierte, nie bewusst gekannte Mutter? Wie bei so vielen Adoptivkindern wächst eine Muttersucht heran und es wird völlig egal, ob sie eine Rabenmutter war – es ist eine kaum bezwingbare Magie darin. Und erwartungsgemäß gerät dem von Selbstzweifeln zutiefst behafteten Wawerzinek sein Leben unstet und immer wieder auch aus den Fugen. Zugleich empfindet der auch als Künstler Tätige den alltäglichen schmerzlichen Mangel: „Eine Kindheit ohne Mutter führt in ein Leben ohne Hintergrund."

Dann kommt die Wende, die Grenze zwischen Deutschland Ost und West fällt und Wawerzinek findet heraus, wo die Mutter abgeblieben sein soll. Die Muttersimulationen sind längst in tausend Versionen verinnerlicht, um so quälender werden die Gedanken an die konkrete Muttersuche und Wawerzinek leidet zunehmend psychosomatisch. Begleitet von der ebenso magischen wie solitären Musik von Keith Jarretts legendärem Köln-Konzert von 1975 bricht er auf nach Eberbach am Neckar, wo die Mutter wohnt. Und umkreist den Zielort voller Seelenqual.

Fast 50 ist er, als er ihr endlich tatsächlich gegenübersteht, und die Realität hält der Muttersimulation nicht nur nicht stand, es ist eine zutiefst enttäuschende Begegnung mit einem „Klotz Mutter", völlig teilnahmslos. Drei Stunden sind diese beiden sich völlig fremden Wesen einander räumlich nahe und der ewig Mutterlose stellt fest: „Wir gehen uns nicht an." Er hört keine Entschuldigung für damals, spürt nichts, was ihn wirklich mit dieser stumpfen Frau verbindet. Da bleibt selbst das Kennenlernen von acht Halbgeschwistern schal, kaum das Vergessen wert.

Der Suchende bleibt mutterlos und er setzt den Schmerz darüber, die Wut und das lebenslange Gefühl des Amputiertseins in eine Prosa um, die mit ihrer dichten, kompromisslosen Eindringlichkeit und Schärfe an die Nieren geht. Manche Szenen gleiten ins schier Groteske und doch bleiben auch sie glaubhaft, denn es sind die Erinnerungen eines, der all dies höchstselbst durchlitten hat: authentischer geht es nicht. Fazit: ein kantiges Stück Literatur, keine leichte Kost aber von herber Schönheit und zutiefst menschlich.

 

# Peter Wawerzinek: Rabenliebe; 429 Seiten; Galiani Verlag, Berlin; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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