SAMUEL D. KASSOW: „RINGELBLUMS VERMÄCHTNIS"

Fast nur Insider kannten bisher das Untergrundarchiv „Oyneg Schabbat" (Jüdisch für Freuden des Sabbat), dabei ist es eine der wichtigsten Geschichtsdokumentensammlung aller Zeiten. Seine schier unglaubliche Geschichte begann im Jahr 1941 im Warschauer Ghetto und Initiator war der polnisch-jüdische Historiker, Politiker, Pädagoge und Publizist Emanuel Ringelblum (1900-1944), Er organisierte ein Netz von bis zu 60 Mitarbeitern, die im „Oyneg Schabbat" das Leben unter der deutschen Besatzung minutiös für die Nachwelt festhielten.

Als schließlich die sogenannte Große Aussiedlung in das Vernichtungslager Treblinka begann, vergruben die Archivare ihre unschätzbaren Bestände in Blechkästen und Milchkannen. Es gab hinterher nur drei Überlebende, die die Verstecke noch kannten, doch nach der Hebung der Schätze 1946 und 1950 verschwanden die fast durchweg auf Jiddisch gehaltenen Dokumente in Jiddischen Wissenschaftlichen Instituten, verborgen vor der Öffentlichkeit. Um so größer ist das Verdienst von Samuel D. Kassow, der die gesammelten Werke nun in einem Geschichtsbuch der besonderen Art unter dem ehrenvollen Titel „Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos" vorlegt.

Der in Stuttgart geborene Professor für osteuropäische Geschichte am Trinity College in Hartfort, Connecticut, geht dabei zunächst auf die Rolle Ringelblums ein, eines Mitglieds der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei. Als 1940 die Bevölkerung des von den Nazis eroberten Warschau durch zwangsweise Umsiedlungen auf über 1,2 Millionen angeschwollen war, wurden die nun rund 400.000 Juden unter ihnen im Ghetto eingepfercht. Unter kaum noch vorstellbaren Lebensumständen war es Ringelblum ein Herzensanliegen, alles aufzuzeichnen von alltäglichen Ereignissen über die jeweilige Situation bis hin zu Augenzeugenberichten des allgemeinen Terrors durch die SS.

Als Mitarbeiter scharte er Professoren, Journalisten, Schriftsteller, Ghetto-Poeten, allesamt Angehörige der jüdischen Intelligenzia um sich. Für alle galt Ringelblums Leitsatz: „Nichts ist unwichtig!" Er hielt die Gruppe an, so viel wie nur möglich zu sammeln – ausgewertet werden könne es dann nach dem Krieg. So gab es einerseits zeitnahe alltags-, wirtschafts- oder auch mentalitätshistorische Abhandlungen sowie die systematischen Augenzeugenberichte, andererseits wurden aber ebenso Details des Alltagslebens festgehalten bis hin zu Speiseplänen der hungernden Massen, Preisen für die kargen Lebensmittel und ähnliches mehr.

Als die „Aussiedlungsmaßnahme" um sich griff, versteckte Oyneg Schabbat im August 1942 eine erste Marge der Dokumentensammlung von 25.540 Seiten. Als im Februar 1943 die jüdische Bevölkerung bereits auf 60.000 dezimiert war und der Warschauer Aufstand bevorstand, wurde die zweite Marge mit weiteren 9.829 Einzelstücken ins Versteck gebracht. Emanuel Ringelblum selbst wurde kurz darauf gefangen genommen, konnte jedoch noch einmal für einige Zeit befreit werden, bevor er im März 1944 in einem anderen Versteck nach einem Verrat von der Gestapo gefasst und erschossen wurde.

Der ungeheure historische Wert dieses Untergrundarchivs gründet gleich auf mehreren Aspekten. Allen voran eröffnen diese ja nicht aus der Erinnerung sondern aus der absolut aktuellen Gegenwartsschilderung stammenden Zeitzeugnisse einen äußerst direkten authentischen Blick auf die unfassbaren Mechanismen des systematisch organisierten nationalsozialistischen Judenmordes in Polen. Hinzu kommen solch beklemmende Exponate wie 76 Fotos, die die unvollkommene Lagerung unbeschadet überstanden haben. Sie zeigen unter anderem Straßenszenen, verhundernde Kinder, jüdische Polizei oder Schmuggler. Sehr erhellend ist im Übrigen Ringelblums tägliche Chronik auf Jiddisch.

Wenn die überwiegend erhaltenen und auswertbaren Dokumente gleichwohl so lange quasi hinter Institutstüren verschlossen blieben, so vielleicht auch wegen einiger unbequemer Tatsachen, die ebenfalls berühren. So gab es auch auf jüdischer Seite Sünder und Verräter am eigenen Volk wie jenes Mitglied des Judenrates, das jüdische Kinder an die SS ausliferte, um sich selbst zu retten. Solche oder ähnliche Vorkommnisse öffentlich zu machen, hätten nach dem Krieg im Entsetzen über das Ausmaß des Holocaust einen Schrei der Empörung ausgelöst und wohl zur Verdammung des unersetzlichen Archivs geführt.

Es ist das große Verdienst Kassows, das Gesamtkonvolut als spröde Dokumentation wissenschaftlich auszubreiten – das ganze Grauen verbirgt sich in de Fakten. Und wer noch ein bewegendes Motiv dieser Archivare aus der Hölle des Ghettos wissen will, lese folgende Zeilen aus Israel Lichtensteins eilig ins Archiv gelegtem Testament: „Mir geht es nicht um einen Dank, um Anerkennung oder Ehrung – ich wünsche mir nur, dass man sich an mich erinnert." Fazit: ein überwältigendes Werk, schwere Kost zwar, aber ganz sicher eines der wichtigsten Bücher über Geschichte der Neuzeit überhaupt.

 

# Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos (aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Siber); 751 Seiten, div. Abb.; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 39,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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