EVA GESINE BAUR: „CHOPIN ODER DIE SEHNSUCHT"

Frédéric Chopin war unbestritten einer der bedeutendsten Komponisten und Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts. Am 1. März dieses Jahres jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal. Man kennt seine vielen großartigen Kompositionen, man weiß um den französischen Vater, der aus Begeisterung in den polnischen Freiheitskampf zog und 1806 die verarmte polnische Adelige Jstyna heiratete, von der das Wunderkind Frydryk die Liebe zur Musik erbte.

Bei all den gefeierten Werken und den Legenden zu seiner Beziehung zu George Sand ist gleichwohl der Mensch hinter dem Künstler wie auch die Kraft, die ihn antrieb, bisher seltsam schemenhaft geblieben. Um so verdienstvoller ist die große Biographie „Chopin oder die Sehnsucht", die Eva Gesine Baur pünktlich zum Chopin-Jahr 2010 vorlegt. Die erfahrene Kulturhistorikerin hat ja auch Musikwissenschaften studiert, sie versteht sich also auf dieses Sujet.

Gleichwohl vermeidet gerade sie eine zu sehr auf die rein musikalische Vita beschränkte Sicht. Puristen werden womöglich Eingehenderes zu einzelnen Werken sowie deren Auswertung vermissen. Dafür wird hier umso mehr der Mensch, die Persönlichkeit, die Widersprüchlichkeit des als in jeder Hinsicht leise empfundenen Genies mit der fragilen Statur herausgestellt. Spätestens von dem Punkt an, wo der in Prag und Wien als Konzertpianist bereits erfolgreiche Chopin 1831 in seine Sehnsuchtsstadt Paris kam, wird diese Biographie zu einem spannenden Roman.

Der jedoch auf exzellent recherchierten und plastisch geschilderten Fakten beruht, die den Musikpoeten in faszinierender Weise in das tatsächliche gesellschaftliche und politische Leben seiner Zeit einfügt. Das macht manches in seinen Lebensumständen begreifbarer und zeigt auch seinen Stellenwert auf, wenn er Idolen seiner Epoche wie Liszt, Berlioz, Robert Schumann oder Heine begegnet. Er selbst wird in der quirligen Weltstadt schnell zum Liebling der Salons und noch mehr der Frauen – vielleicht gerade, weil er so scheu und melancholisch war.

Die Hypersensibilität gepaart mit der körperlichen Zerbrechlichkeit des schon früh Schwindsüchtigen gepaart mit seinen feinen Manieren machten ihm zum Sinnbild des Romantikers schlechthin. Zugleich verzehrte er sich sowohl in dem Heimweh nach Polen wie in der unglücklichen Liebe zu einer 18-Jährigen. Die Autorin lässt spürbar werden, wie dieser Leidensmann gerade aus seinen Krankheiten und seinen seelischen Schmerzen poetische Kraft schöpfte, die in die so leicht wirkenden und doch so hart erarbeiteten Werke einfloss.

Und natürlich kommt die legendäre Liebesbeziehung zu der so gegensätzlich erscheinenden George Sand mit allen teils recht komplizierten Umständen zur Sprache. Die Schriftstellerin, die mit ihrem maskulinen Habitus wie auch ihren höchst kritischen und feminin selbstbewussten Büchern eine der ungewöhnlichsten Erscheinungen selbst im liberalen Paris war, warb regelrecht um den zart beseelten, sechs Jahre jüngeren Künstler.

Wie kongenial die Musikliebhaberin zu dem kapriziösen und doch immer nach Liebe und Zuwendung lechzenden Künstler passte, hat die Autorin feinfühlig herausgearbeitet. Zusätzlich wird das Gesamtbild auch von vielen Briefen und Aussagen anderer Zeitgenossen abgerundet. Und es erscheint geradezu schicksalhaft konsequent, wenn diesen in Paris zum umjubelten Genie aufgestiegenen Polen die ewige Sehnsucht nach der Heimat zerriss und das selbst nach seinem frühen Tod mit 39 Jahren eine symbolische Form fand: sein Leichnam wurde in Paris bestattet, sein Herz jedoch in Warschau.

Eva Gesine Baurs Verdienst ist es, jenseits aller wissenschaftlicher Theorie ein detailliertes und umfassendes Gesamtbild Frédéric Chopins geschaffen zu haben. Dass sie dabei auch mit hervorragendem Zeit- und Lokalkolorit überzeugt, macht diese Biographie um so mehr zu einem großen Lesevergnügen.

 

# Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht. Eine Biographie; 564 Seiten, div. Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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