ISABEL ALLENDE: „DAS SIEGEL DER TAGE"

Der autobiographische Roman „Paula" gehört zu den bewegendsten Werken Isabel Allendes, denn in ihm verarbeitete sie all das zu Memoiren der besonderen Art, was sie während der Monate an der Seite ihrer im Koma liegenden Tochter aus ihrem Leben erzählt hat. In ihrem neuen Roman „Das Siegel der Tage" nimmt die in Kalifornien lebende Chilenin diese Konversation mit der Verstorbenen gewissermaßen dort wieder auf, wo sie im Vorgängerbuch endete.

Die große Meisterin des magischen Realismus berichtet jetzt vor allem davon, wie ihr offenes Haus im Marin County nicht mehr nur der Mittelpunkt ihrer Familie ist, denn die hat sich längst mit den angeheirateten Verwandten zu einem regelrechten Clan verwandelt. Und die glänzende Erzählerin muss nichts erfinden, schließlich schreibt das Leben die fantasievollsten Geschichten und Isabel Allende weiß sie grandios auszubreiten.

Ihre Ehe mit dem Anwalt William „Willie" Scott findet ihre Würdigung samt allen Achterbahnfahrten der Emotionen zwischen diesen beiden Individualisten, doch noch illustrer sind all die Gestalten, die ansonsten das Leben der Autorin bevölkern. Da ist die hinreißende Mutter, mit der Allende eine ganze Nacht lang Marihuana gegen eine quälende Schreibblockade raucht, oder die behinderte Stiefenkelin, für die sie die Adoption durch zwei buddhistische Lesben arrangiert. Schwierigste Patchwork-Verhältnisse ergeben sich mit den Ex-Ehefrauen Willies, mit eigenen und ungeliebten Stiefkindern.

Mag sie einerseits auch wohl eine großzügige und warmherzige Chefin ihres Clans sein, so schildert sie die Geschehnisse andererseits mit einer alarmierenden Intimität und erscheint durchaus als die Obermutter aller, doch als Mutter oder Gattin könnte sie so manch einem wohl zu allumfassend fürsorglich und anstrengend sein. Wie zum Beispiel Sohn Nico, der mit seiner Frau drei Kinder zeugt und dann keinen Ersatz findet, als die extreme Katholikin überraschend mit einer Frau davonläuft. Prompt besorgt ihm Mutter Allende eine neue, hält aber dennoch weiter Kontakt zu Ehefrau Nummer Eins und deren lesbischer Freundin.

Aber die kleine starke Person regiert ihren Clan nicht nur ganz nach chilenischer Art, sie hat auch sonst viel Interessantes zu erzählen wie zum Beispiel von ihrem speziellen Einsatz bei den Olympischen Winterspielen in Turin. Und nicht zu vergessen die Geister, die ständig und nicht erst seit ihrem Debütroman „Das Geisterhaus" um sie sind. Wenn sie dann sehr gefühlvoll wird, sorgt alsbald ihr boshafter Humor gepaart mit allerhand Selbstironie dafür, dass der Spannungsbogen nicht ins Sentimentale absinkt.

Fazit: ein hinreißend fabuliertes Familientableau und da das meiste zumindest subjektiv wahr ist, ungleich niveauvoller als alle Klatschgeschichten der Regenbogenpresse, jedoch ebenso bunt wie diese.

 

# Isabel Allende: Das Siegel der Tage (aus dem Spanischen von Svenja Becker), 413 Seiten; Suhrkamp Verlag, Frankfurt; € 19,80

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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