ELLIOT PERLMAN: „SIEBEN SEITEN DER WAHRHEIT"

Wie mehrdeutig Erlebtes gesehen, empfunden und geschildert werden kann, das hat der australische Autor Elliot Perlman in seinem großen Roman „Sieben Seiten der Wahrheit" mit einem ebenso gewagten wie überzeugenden Kunstgriff zu einer fesselnden Geschichte verdichtet, deren parallele Fäden allerdings erst gegen Ende miteinander verknüpft werden.

Ausgangspunkt ist die besessene Liebe des arbeitslosen Lehrers Simon, der nicht mehr mit dem Leben zurechtkommt, seit ihm seine große Liebe Anna zu College-Zeiten vor zehn Jahren plötzlich und ohne jede Erklärung den Laufpass gegeben hat. Längst ist die Schöne anderweitig verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Simon jedoch hat nie losgelassen und beobachtet sie unablässig heimlich. Als immer deutlicher wird, dass Annas Ehe mit dem wenig sympathischen Finanzmakler Joe recht unglücklich geworden ist, grübelt Simon über Strategien nach, wie er sie zurückerobern könnte, und die Idee, die er dabei entwickelt, läuft auf eine Straftat mit Folgen hinaus: weil die schlechte Ehe nicht gut für Annas Sohn sei, entführt der seltsam lebensuntüchtige Pseudo-Philosoph den Kleinen.

Das mag nicht sehr spektakulär sein und Simon lässt das Kind auch bald wieder frei, aber strafrechtliche Konsequenzen hat es gleichwohl. Zugleich ist dieses Geschehen der Auftakt zu einer komplexen Rückschau nicht nur aus Simons einseitiger emotionaler Sichtweise. In sieben Kapiteln wird das zentrale Ereignis jeweils neu erzählt und jeder, der zu Worte kommt, zeichnet ein sehr eigenes und zugleich stark abweichendes Bild, zuweilen so abweichend, dass man fast meinen könnte, es wäre nicht mehr vom Grundereignis die Rede.

Simons Psychotherapeut Alex Klima allerdings berichtet nicht nur selbst sondern erfährt auch von anderen Beteiligten wiederum derartig andersartige Bewertungen, dass es ihn an den Rand der Unparteilichkeit treibt. Die kann man von Anna, quasi als Stalking-Opfer Simons, sowieso nicht erwarten, aber auch nicht von Simons seltsamer Freundin Angelique. Sie arbeitet als Amateurnutte und einer ihrer festen Kunden ist ausgerechnet Annas Ehemann Joe, was Simon wiederum besonders gegen ihn aufbringt. Um so passender fügt sich Joes Sichtweise als eigenes Kapitel ein, während dessen Mitarbeiter Dennis erneut Abweichendes schildert und erst Alex Klimas Tochter scheinbar eine Klärung verschafft.

Bleibt die spannende Frage: Wer erzählt die Wahrheit?! Subjektiv alle, doch welcher Darstellung soll man bei solch drastischen Unterschieden trauen? Das ist mitreißend geschrieben und obwohl das eine Ereignis siebenfach ausgebreitet wird, entsteht nie Langeweile, weil jedes der sieben Kapitel volle Eigenständigkeit entwickelt. Fazit: ein anspruchsvolles Lesevergnügen, das als Beiwerk zudem mit souverän eingeflochtener Gesellschaftskritik aufwartet.

 

# Elliot Perlman: Sieben Seiten der Wahrheit (aus dem Englischen von Matthias Jendis); 862 Seiten; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 22,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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