MICHAEL KÖHLMEIER: „ABENDLAND"

Carl Jakob Candoris ist ein ungewöhnlicher Mann: Professor für Mathematik, Kosmopolit, Jazz-Liebhaber und mit 95 Jahren noch bei klarem Geist. Nun ruft er sein Patenkind Sebastian Lukasser in seiner Villa oberhalb Innsbrucks und eröffnet dem 52-jährigen Schriftsteller, der sich soeben von einer Prostata-Operation erholt: „Ich habe gerade Inventur gemacht und du bist der einzige Mensch von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt."

Damit beginnt eine große Doppelbiographie, die das gesamte 20. Jahrhundert umfasst mit all seinen Verwerfungen. Eine doppelte deshalb, weil Sebastian als Ich-Erzähler wie selbstverständlich auch auf sein eigenes Lebens zurückblickt, das viele Berührungspunkte mit dem des Alten hat. „Abendland" hat Autor Michael Köhlmeier seinen neuen und nicht nur wegen des Umfangs wohl größten Roman überschrieben, denn eben dies erhält in diesen Aufzeichnungen aus dem Winter 2001 ein ganz eigenes, ungeheuer vielfältig schillerndes Gemälde.

Raffiniert sind die hinreißend ausgearbeiteten Charaktere so authentisch ausgelegt, dass man vergebens zum Beispiel nach dem genialen Jazz-Gitarristen Georg Lukasser in Lexika schaut, denn der Vater Sebastians, den Candoris als begeisterter Mäzen unterstützt hat, ist ebenso Fiktion wie der Sohn und auch Candoris. Andere Nebenfiguren indessen wie Oppenheimer und weitere Wissenschaftler sind nicht nur intelligent eingeflochten, sie lassen Geschehnisse obendrein 'echt' erscheinen.

Wenn der auf den Tod kranke und dennoch wie stets würdevolle Professor auf seine Vorfahren als Herrscher eines Kolonialwarenimperiums zurückschaut oder Sebastian die Geschichte offenbart, wie dessen Vater in den Jazz-Clubs im viergeteilten Wien der Nachkriegszeit zu frühem Ruhm gelangte und wie seine Mutter sich diesen lebensuntüchtigen Alkoholiker eroberte, ist das grandios erzählt. Und wenn der selbst vielfach gestrauchelte Chronist seinen Teil „aus dem goldenen Sagenschatz unserer Familie" hinzufügt, entsteht eine das Jahrhundert vom Herrero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika über Candoris' Assistentenjahr im stalinistischen Moskau, Nazi- und portugiesische Diktatur bis zur Studentenzeit Sebastians zu RAF-Hochzeiten und spätere aber immer noch unzeitgemäße Liaison mit einer Farbigen in den USA umspannende Melange, die gewaltig ist, dabei jedoch in Komposition, Stil und dichter Athmosphäre bis zur letzten Zeile überzeugt.

Trotz der Fülle ist nichts zu viel an diesem fesselnden Generationenroman, der an vielen Stellen vor sprachlicher Eleganz und Lebensklugheit funkelt. Fazit: ein ganz großes Stück Literatur und ein wahrer Genuss für anspruchsvolle Leser.

 

# Michael Köhlmeier: Abendland; 784 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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