ROBERTO BOLANO: „CHILENISCHES NACHTSTÜCK"

Eine grandiose Parabel über Wegsehen und Mitläufertum in einer Diktatur hat Roberto Bolano (1953-2003) mit seinem 2000 im Original erschienenen Roman „Chilenisches Nachtstück" verfasst. Es ist der Monolog des fiktiven Priesters, Literaturkritikers und Dichters Sebastian Urrutia Lacroix auf dem Sterbebett, der gleich zu Beginn feststellt: „Mein ganzes Leben lang war ich mit mir selbst im reinen. - Jetzt nicht mehr."

Es ist eine fieberhafte Rückschau, bei der dem bis dato so erfolgreichen Ignoranten ein „vergreister Grünschnabel" - offenbar sein spät erwachtes Gewissen – die selbstgefällige Ruhe verdirbt. Dabei war sein Aufstieg als poetisierender Priesterzögling bis zum Literaturkritiker und mäßig anerkannten Dichter so harmonisch verlaufen, nachdem ihn der homophile und rechtslastige Kritikerpapst Farewell gefördert hatte. Abgehoben vom Alltagsgeschehen gerät Lacroix zum literarischen Schwarmgeist, der zu Tränen gerührt ist, als er den großen Pablo Neruda persönlich Verse deklamieren hört.

Keine Ader schlägt ihm gleichwohl, als dessen Freund, der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Allende durch die rechte Junta weggeputscht wird und Chile in der brutalen Militärdiktatur versinkt. Lacroix hat sich derweil mit der Welt der alten Griechen beschäftigt und lebt friedlich und mit sich und der Geschichte im reinen als geachteter Priester und gewichtiger Literaturkritiker. Sein Prestige treibt solche Blüten, dass er sogar den ehrenvollen Auftrag erhält, Pinochet und seinen Generälen Unterricht im Marxismus zu erteilen, damit sie den politischen Feind besser verstehen lernen.

Makabrer Gipfel der Ignoranz sind jedoch die Besuche im literarischen Salon einer mäßig begabten aber allseits hofierten Schriftstellerin. Während sich bei ihr die kulturelle Elite des faschistischen Regimes vergnügt, unterhält ihr Ehemann im Keller eine Art Geheimgefängnis, in dem Regimegegner gefoltert werden. Lacroix aber sah ja nie die Toten, denn während des Putsches weilte er auf einer kirchlichen Auslandsreise und danach erlebte er einen totenstillen Frieden. Als Mann von Geist und Intellekt war er zwar bei allem dabei, hat jedoch von nichts etwas gewusst. Nun aber ist das gepflegte Gefüge aufgebrochen und die beklemmende Botschaft des Gewissens mündet in den letzten Satz eines ignoranten Lebens: „Und dann bricht er los, der Orkan aus Scheiße."

Mit bissig-finsterer Ironie entlarvt der chilenische Autor die ganze Bandbreite des Mitläufertums in Diktaturen und wenn er dies mit der Soutane des Priesters verknüpft und auch ein Ernst Jünger eine Nebenrolle spielt, ist das nicht von ungefähr. Dieses Nachtstück ist ein beklemmendes Meisterwerk und gehört in die Bibliothek der zeitlosen Klassiker.

 

# Roberto Bolano: Chilenisches Nachtstück (aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg); 157 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; € 17,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 480 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de