GUNNAR DECKER:"GOTTFRIED BENN – GENIE UND BARBAR"

Er war Pathologe und Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, doch als überlebenswichtiges Ventil schrieb er sich als Wortbesessener und Sprachmagier in eine Gegenwelt: Gottfried Benn (1886-1956). Der Pastorensohn aus der Provinz, der den Vater wie auch alles Provinzielle hasste, nahm seinen erst späten Ruhm ab 1948 grimmig zur Kenntnis.

Der wohl bedeutendste deutschsprachige Dichter der Moderne war ein empfindsamer Egomane und ein bis zum Zynismus radikaler Aufrührer des Wortes, zugleich in der rücksichtslos beanspruchten Freiheit des Künstlers bis ins Alter ein Erotomane, der trotz dreier Ehen und unablässligen sexuellen Eskapaden einen unbändigen Unabhängigkeitswahn pflegte. Bei aller Scheu des Dichters gegenüber Autobiographischem ist es dem Philosophen Gunnar Decker dennoch gelungen, dessen überaus schwieriges Leben in eine Biographie zu gießen, die eine Annäherung an diese schwierige Geistesgröße ermöglicht.

"Gottfried Benn. Genie und Barbar" ist das Werk überschrieben und beidem mag man zustimmen. Früh wird der Großstadtneurotiker zum Provokateur mit seinen expressionistischen Gedichten aus Sezierkeller und Krebsbaracke und er hat in der geistesverwandten, 17 Jahre älteren Else Lasker-Schüler eine frühe große Muse. Literarisch eine großartige Zeit wurden dann seine Jahre als Militärarzt im Ersten Weltkrieg. Um so krasser sein Sündenfall, als er sich 1933/34 den ihm so gegensätzlichen Nazi-Herrschern anschließt. Weil er der "entarteten Kunst" des Expressionismus gleichwohl niemals abzuschwören gedachte, fiel er dennoch bald in Ungnade.

Der Autor macht die Schizophrenie im Leben Benns deutlich, wie dieser sich dann in das Leben als Oberstabsarzt rettet als "aristikratische Form der Emigration". Den immerwährenden Ekel des radikalen Dichters, der sich trotz ständig bescheidener Lebensumstände stets wie ein Lebemann gab, kann auch der späte Ruhm nicht mildern. Georg-Büchner-Preis, Bundesverdienstkreuz und viel Ehre – seine Bücher aber verkaufen sich mäßig und populär war er noch am meisten als Rundfunkmann.

Gunnar Decker zeigt den Non-Konformisten Benn als extrem vielschichtig und geradezu schizophren, wenngleich nicht im pathologischen Sinne. Dank intensiver Recherche im reichhaltig nachgelassenen Briefverkehr gibt es interessante Einblicke in das alltägliche Höhlenleben des schwierigen Einzelgängers. Diese detaillierte und wohlformulierte Biographie, die alle Voraussetzungen für ein Standardwerk zu Gottfried Benn mitbringt, lässt die widersprüchlich verwobene Entwicklung seines privaten wie seines beruflichen und küstlerischen Lebens nachvollziehen. Vielleicht fällt es auch dann noch schwer ihn zu lieben, nicht jedoch ihn zu bestaunen und zu bewundern.

 

# Gunnar Decker: Gottfried Benn. Genie und Barbar; 544 Seiten, div. Abb.; Aufbau-Verlag, Berlin;

€ 26,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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