ULRIKE DRAESNER: "MITGIFT"

Familiengeheimnisse können zu einer schweren Mitgift fürs ganze Leben werden und "Mitgift" heißt auch der neue Roman von Ulrike Draesner, bisher als Lyrikerin bekannt. Darin sind gleich zwei Menschen direkt mit einer ungewöhnlichen Mitgift beladen: die Schwestern Anita und Aloe. Die jüngere Anita ist als Zwitter geboren und unter großen Torturen ‚umoperiert’ worden. Aloes Aufwachsen wiederum geschieht als direkte Folge der lange Zeit für sie unverständlichen Sonderbehandlung der Schwester ebenfalls nicht ‚normal’.

Die ängstliche Aufmerksamkeit der Eltern für die mit den Mitteln moderner Medizin auf normal getrimmte Anita, deren erblühende Schönheit und erstaunliche Selbstsicherheit sowie die Zurückweisungen der eigenen Person lassen die intelligente und übersensible Ältere in Hassliebe verfallen. In ihrer Absonderung von der Familie fällt sie scharfe Urteile: "Anita wurde ein zurechtoperiertes, eindeutiges Tierchen im Staat der Männer und Frauen."

Zugleich treiben ihre Selbstfindungsprobleme sie an die Seite des eher indifferenten Astronomen Lukas und dort in eine beklemmend beschriebene Magersucht. Als wolle sie sich in die Geschlechtslosigkeit hungern und damit noch radikaler von der Doppelgeschlechtlichkeit ihrer Schwester distanzieren. Die wiederum an ihrer scheinbar bewundernswerten Normalisierung samt Berufserfolg und eigenem Kind rabiat scheitert. Ihre Selbstwerdung war eine zu sehr aufgezwungene Chimäre, wogegen Aloe die ihre im Schatten Anitas quasi versäumt hatte.