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ANIKA DECKER: „ZWEI VERNÜNFTIGE ERWACHSENE, DIE....“
Eine höchst zeitgemäße Tragikomödie mit viel unterschwelligem Tiefgang hat Anika Decker mit ihren zweiten Roman vorgelegt. Als Beigabe gibt es allerlei Seitenhiebe auf den auch heute noch typischen Chauvinismus der Männer und die teils eher zweifelhaften Auswüchse des me:too.
„Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ lautet der bemerkenswerte Titel und der erhält im Laufe der Geschichte eine durchaus plausible Erklärung. Im Mittelpunkt steht Nina, kurz vor ihrem 50. Geburtstag stehend, mittlere Angestellte in einem Berliner Medienunternehmen.
Zum Einstieg schildert die Ich-Erzählerin ebenso sarkastisch wie drastisch von ihrer geplatzten Ehe mit Phil und was für ein schaf sie war. Weshalb sie wegen des Ehevetrages bei der Scheidung voll ins Leere lief, während er noch immer in der Villa wohnt. Und das, obwohl er offizielle sogar als sehr arm eingestuft ist.
Mindestens so bitter aber schmeckt der Grund für all das: Lulu, rund 20 Jahre jünger als er. Nina hatte die Beiden vor fünf Jahren in flagranti erwischt, wonach die eingebildete Influencerin ihn sogar zu einer künstlichen Befruchtung animieren konnte. Und obwohl Phil sich für die bereits erwachsenen Kinder mit Nina stets nur mäßig interessierte, spielt er nun den Daddy für die kleinen Zwillinge.
Auf deren Kindergeburtstag im Garten der Villa lässt sich jetzt Nina tatsächlich zur Mithilfe einspannen. Das aber mit ungeahnten Folgen, denn dort begegnet sie David, gut aussehend und rund 20 Jahre jünger als sie.
Natürlich knistert es sofort, doch erst einmal erfährt man nun auch Näheres über Nina Mutter Karin, verwitwet und ziemlich auf Alk, sowie über ihre jüngere Schwester Lena. Immer mit bräsiger Stimme, immer irgendwie unzufrieden. Was klar mit Ehemann Flori zu tun hat, einem erfolgereichen Langweiler und Kollegen von Phil. Das herrscht schlicht tote Hose in der Ehe.
Nina dagegen hat sich ihre Lebensumstände und ihre sehr kleine Wohnung gewöhnt und betont gegenüber ihrer besten Freundin Zeynep: „Aber alles, was darin passiert, bestimme ich.“ Und dann schlägt dort mit diesem unverschämt verlockenden David der Blitz ein, denn nach langer Trockenphase mit vermeintlich abgestorbener Libido ist der Sex sensationell.
Und es wird eine leidenschaftliche Affäre daraus. Aber mit den typischen Begleiterscheinungen: er ist doch so viel jünger?! Eigentlich nur so viel wie Phils Lulu. Damit setzt ein sehr lebensnahes Hin und Her ein mit Eifersüchteleien, Häme und Vorurteilen. Dass Mutter Karin dann auch noch ins Krankenhaus muss, erleichtert das Miteinander auch nicht gerade.
Die ganze Geschichte entfaltet sich mit spitzer Zunge und unerbittlichem Blick ganz und gar gegenwärtig als mitreißende Achterbahn der Gefühle. Da spürt man sehr positiv, dass Anika Decker auch erfolgreiche Drehbuchautorin ist (u.a. Kassenschlager „Keinohrhase“).
Fazit: eine nicht nur Liebeskomödie mit vielen Spitzen und Entlarvungen, an der auch männliche Leser viel Vergnügen (und die ein oder andere wertvolle Erkenntnis!) finden dürften.
# Anika Dekcer: Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben; 462 Seiten; dtv Verlag, München; € 23

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)