- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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CHARLOTTE RUNCIE: „STANDING OVATIONS“
Das alljährliche Fringe Festival in Edinburgh ist das größte Kulturfestival der Welt mit tausenden von Künstlern, die sich mit ihren Darbietungen den Durchbruch erhoffen. Hayley Sinclair aber erlebt mit ihrem Debüt einer One-Woman-Show zu Klima, Patriarchat und drohendem Weltuntergang ein Debakel.
Dafür sorgt der wegen seiner Gnadenlosigkeit gefürchtete Alex Lyons mit einer boshaften, vernichtenden Ein-Sterne-Rezension. Und er ist der Chef-Kritiker einer überregionalen Zeitung mit hoher Auflage. Doch er setzt noch einen drauf, als er die nichtsahnende Entertainerin nach ihrer Show in einem Pub trifft.
Noch voll auf Adrenalin lässt sie sich von dem attraktiven 34-Jährigen abschleppen. Um am anderen Morgen in der Zeitung den karrieresprengenden Verriss zu entdecken und daneben das Foto des Autors. Mit dieser Ungeheuerlichkeit beginnt Charlotte Runcies Debütroman „Standing Ovations“.
Sie ist selbst Kulturjournalistin und es ist ein geschickte dramaturgischer Kniff, dass sie die sich nun entfaltende Geschichte von Sophie erzählen wird, der Kollegin, die unter Alex für dieselbe Zeitung schreibt. Sie bekommt Hayleys Empörung an diesem Morgen mit, denn sie nutzt dieselbe fürs Festival angemietete Wohnung.
Die Reaktion der Gedemütigten aber erweist sich als spektakulär: sie startet ihre Show neu und nun mit dem Titel „Die Sache mit Alex Lyons“. Die ist tatsächlich ausverkauft und die lasziv aufgemachte Hayley steht mit nichts als der bewussten Zeitung im Scheinwerferlicht und – verliest den Verriss passagenweise.
Ihr erster giftiger Zwischenkommentar: „Während er mit mir gevögelt hat, wusste er, dass ich diesen Zeilen lesen würde.“ Immer mehr wird Hayley zur gebieterischen Furie und die Show zu einem packenden Ereignis. Das in dem Aufruf gipfelt: „Machen wir Alex berühmt.“
Was im Nu geschieht, zumal nun ein anderer wichtiger Kritiker die Show nicht nur als Meisterwerk feiert, das die Machtverhältnisse zwischen Künstlern und Kritikern in ihren Grundfesten erschüttern werde. Natürlich rotiert der entsetzte Alex, muss jedoch erkennen, dass alles, was er unternimmt, umgehend ebenfalls in Hayleys Show landen könnte.
Doch die nun allabendlich ausverkauften Shows eskalieren auch so, denn immer weitere Frauen melden sich, die die selbstherrlichen Sünden des Gockels erlitten haben, und machen ihre Erlebnisse vor laufender Kamera publik und stempeln Alex, den Sohn einer berühmten Schauspielerin, zum Symbnol männlicher Arroganz ohne jeden moralischen Kompass ab.
Da gerät selbst Sophie in einen Zwiespalt, denn sie hat ihn seit ihren gemeinsamen Anfängen stets für seine Brillanz bewundert und tut es auch jetzt noch. Obwohl er während ihrer Babypause beruflich lässig an ihr vorbegezogen ist. Andererseits hat sie viel Verständnis für den Rachefeldzug Hayleys, der geradezu als Musterbeispiel von me:too aufblüht.
Der Roman hat somit diesen bestimmten Touch und ist dennoch nicht feministisch überbelastet. Dafür sorgen schon die mitreißenden Charaktere und deren überaus bissigen Dialoge. Zudem sind die Einblicke in die Welt von Kulturbetrieb und Journalismus erkennbar authentisch und nicht nur für Kenner ausgesprochen genüsslich zu verfolgen.
Fazit: ein exquisites Lesevergnügen und absolut filmreif obendrein.
# Charlotte Runcie: Standing Ovations (aus dem Englischen von Katharina Martl); 331 Seiten; Piper Verlag, München; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
