0092kraus

CHRIS KRAUS: „DIE SONNE UND DIE MOND“
„Sonne“ lautet der liebevolle Spitzname von Sonja Meling. Der Vater jedoch, der ihn ihr gegeben hat und den sie abgöttisch liebte, begeht drei Tage nach ihrem 17. Geburtstag Suizid.
Damit beginnt „Die Sonne und die Mond“, der neue Roman von Erfolgsautor Chris Kraus. Der klugen introvertierten Sonne stellt er die gleichaltrige Jana von Mond gegenüber, aus naheliegenden Gründen schon in der Schule als „die Mond““ bezeichnet. Die ebenfalls mit 17 beide Eltern durch einen Autounfall verloren hatte.
Als Schulfreundinnen waren sie lange Zeit der einzige Halt füreinander. Obwohl sie so gegensätzlich wie eben Sonne und Mond waren, die so chaotische Jana und sie so sachlich vernünftige Sonja. Und gemeinsam starteten die beiden Unzertrennlichen von München aus eine schrille Karriere als linkes Avantgarde-Theaterensemble.
Jetzt aber, beide sind inziwschen Anfang 40, trennen sie Welten. Ohne Kontakt zueinander nach einem unverzeihlichen Verrat. Sonne betreibt in Berlin ein alternatives Bestattungsinstitut mit dem bemerkenswerten Namen „Sommernachtstraum“, dessen Geschäftsräume in einer ehemaligen Bäckerei liegen, der „Totenbäckerei“.
Sommers bäriger Mitarbeiter Samuel und sie erfüllen auch ausgefallenen Bestattungswünsche, über die man hier einiges erfährt. Dann jedoch platzt sie herein: die Mond, exaltiert wie gewohnt und außer Atem kotzt sie in einem ihrer intensiven Migräneanfälle erst einmal eine Urne voll.
Verfolgt von der prallen Boulevard-Schlagzeile „Ehemann begeht Selbstmord. Sender trennt sich. Privatinsolvenz!“ sprudelt es aus dem völlig derangierten TV-Comedystar heraus: Ehemann Said ist gemeinsam mit seiner Geliebten Ying Shu – zuvor Janas Psychotherapeutin – mit seinem Tesla in Italien über eine Klippe in den Tod gesegelt.
Ausgerechnet Sonne und nur sie soll sie in ihrer Not erst einmal für ein paar Tage aufnehmen, vor allem aber die Bestattung vornehmen. Und zwar als Doppelbestattung für Said und Ying Shu, die im Übrigen auch noch schwanger von ihm war. Was Sonne gallig als „Mamapapakind-Bestattung“ bezeichnet und ablehnen will.
Schon bis hierher liest man sich schwindelig an dieser einzigartigen Tragikomödie voller funkelnder Metaphern, Dialogen und Sätzen fürs Zitate-Lexikon. Mit morbidem Charme wird die Arbeit der Bestatter detailliert geschildert und manch satirische Spitzfindigkeit entfaltet tiefschwarzen Humor.
Wenn sich dann jedoch in grantigen Disputen allmöglich herausschält, wie die beiden Frauen einst gemeinsam auf dem Weg nach oben waren, die ebenso narzisstische wie skrupellose Jana ihre beste Freundin verraten hat, das offenbart mal bittere Abgründe, mal mitreißende Situationskomik.
Mitten in den Vorbereitungen fürs nächste Theaterprogramm war die ruhm- und sexhungrige Mond heimlich dem schmierigem Fredo mit seinen Beziehungen gefolgt, und tauchte plötzlich als Comedy-Sternchen bei RTL auf, während Sonne mit allen Kosten vor dem Nichts stand.
Doch die Umstände waren und sind ja viel komplexer und wie sich aus verschiedenen Perspektiven allmählich und mit grandiosen Überraschungen und Wendungen ein Mosaik entfaltet, das entwickelt eine unglaubliche Sogwirkung.
Zumal auch die „Nebendarsteller“ kongenial mitspielen, wie der altkluge Nicky, Sonnes achtjähriger Sohn, der einfach unglaublich mit seiner schweren Behinderung als Bluter der hochgefährdeten Klasse umgeht. Oder die Rollen von Said und Mubi, die vor allem im Sexleben der Damen ihre Spuren hinterlassen haben.
Und schließlich Samuel, der nicht nur wie Sonne auch sehr jung seinen Vater durch Suizid verlor. Je mehr man ihn in all seinen interessanten Kontzuren – und Geheimnissen – kennenlernt, desto mehr gewinnt gerade auch er. Doch man darf aus diesem opulenten Roman einfach nicht zu viel verraten.
Er reißt mit seinem erzählerischen Feuerwerk einfach mit, fesselt zugleich mit einem Hauch morbider Romantik, aber auch manch tiefgründigen Momenten. Und dann steigert sich das Geschehen zu einem filmreifen Furioso, bevor es beinahe märchenhaft ausklingt.
Immer wieder spürt man bei der Komposition und der Bildhaftigkeit mancher Passagen die kompetente Hand des Drehbuchautors und Filmemachers, der Chris Kraus ja ebenfalls ist. Und bei alle dem bekommt der Roman durch sein Nachwort noch eine andere Färbung, die nachdenklich macht, wenn er da schreibt, dass das Werk unter dem Eindruck des Todes seiner an Krebs verstorbenen Frau Uta entstanden ist.
Fazit: ein ungemein intensives literarisches Meisterwerk, das im Übrigen unbedingt verfilmt werden sollte.


# Chris Kraus: Die Sonne und die Mond; 608 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)