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DANIEL WISSER: „SMART CITY“
„Erleben Sie selbst, was es heißt, in der sichersten und nachhaltigsten Stadt der Welt zu leben“, verkündet die Stadtführerin den ausländischen Gästen beim Gang durch NEUDA.
Nahe der slowakischen Grenze liegt diese österreichische Retortenstadt, so superneu und hochmodern, dass sie Smart City genannt wird. Und „Smart City“ ist auch der Titel des jüngsten Romans von Daniel Wisser. Fast reportagehaft schildert der vielfach preisgekrönte Autor NEUDA eingangs, das von aktuell 17.953 Einwohnern auf schon bald 36.000 anwachsen soll.
Es ist autofrei, dafür fahren kostenlos Elektro-Caddys und Elektrobusse, und die für alles zuständige Tucana-Company überwacht die Straßen mit Drohnen und über 9.000 Kameras. Für die persönliche Sicherheit sorgen die stets zu tragenden Smartwatches per App und in der Wohnung achtet der Raumcomputer mit Alarmautomatik darüber, dass im Notfall sofortige Hilfe erfolgen kann.
Über vier Haupttore betritt man NEUDA und die Securitymänner vom Tucana Tower achten auf den berechtigten Zutritt. So viel garantierte Sicherheit ist genau das Richtige für die Hauptperson des Romans, denn Morag Oliphant hat vor zwei Jahren ein furchtbares Verbrechen nur knapp überlebt.
Als die Journalistin von einem Termin heimkam, fand sie Ehemann Rochus und Tochter Nelly erschlagen in der Wohnung. Dann schlugen die Täter auch bei ihr zu und sie erholte sich nur langsam und mit bleibenden Problemen von den schweren Verletzungen. Man hatte ihr die sicherste Stadt der Welt zum Wohnen empfohlen und sie findet auch einen Job bei der Lokalzeitung „Timeline“.
Doch die gewiefte Morag war nicht von ungefähr mit einem hochkarätigen Enthüllungsjournalisten verheiratet: schon bald entdeckt sie Ungereimtheiten und dunkle Flecken in der Supersauberstadt, in der jeder der ausgesuchten Einwohner vertraglich verpflichtet ist, eine Tracking-App auf der Smartwatch zu führen.
Unfälle und Kriminalität gibt es hier selbstverständlich nicht und für notwendige „Meldungen“ an den Tucana Tower steht eigens ein Whistleblower-Tool zur Verfügung. Dennoch findet Morag im Nu heraus, dass sich um Sauberkeit und Müllentsorgung illegal eingeschleuste Migranten kümmern.
Und nicht nur das: wer eine „Zugeherin“ oder ähnliches Hilfspersonal benötigt, ordert solches aus Rußbach herbei, einem Containerdorf außerhalb der Mauern von NEUDA. Dort bekommt man auch allerlei in der Stadt verbotene Dinge wie z.B. Modems für einen Internetzugang außerhalb des von Tucana vorgeschriebenen.
Morag hat sich inzwischen mit Kollegin und Nachbarin Maria Lisini mehr als nur angefreundet, die mit ungleich größerer Skrupellosigkeit arbeitet. Aber auch sie muss ihre Artikel drehen und wenden, um sie durchzubekommen. Zugleich wird Jenny Beck, eine weitere Kollegin, vom ebenso allmächtigen wie selbstherrlichen Tucana-Boss Thilo Heuer abgeworben, um Propaganda fürs Volk zu machen: „Dass hier die beste aller Welten ist.“
Morag und Maria kommen immer mehr trüben Missständen auf die Spur, Unter anderem über Caddy-Fahrer Nikola, der mit seinem Migrationshintergrund nur eine Staatsbürgerschaft B mit deutlich geringeren Rechten als ein „echter“ Österreicher hat. Und bezüglich des Zugangs der unverzichtbaren Schwarzarbeiter – natürlich hat auch Thilo Heuer welche! - soll ausgerechnet Maria dem zuständigen IT-Sachbearbeiter bei Tucana für eine Programmierung behilflich sein, die die illegalen Zu- und Abgänge nicht registriert.
Das Alles aber wird nicht so trocken erzählt, wie es hier klingt, vielmehr zunehmend auch wie ein spannendes Doku-Drama. Dafür werden immer wieder Passagen einer offenbar größeren Ermittlung über Wesen und Tätigkeiten von Morag Oliphant eingeblendet.
Parallel dazu bewirkt der Tucana-Boss nicht nur die immer schärfere Zensur bei der Zeitung, er lässt auch keinen Zweifel daran, wie lästig ihm Demokratie ist. Währenddessen entdeckt Morag Spuren des finsteren Komplotts, dem ihre Familie zum Opfer fiel. Ihre Recherchen gehen noch viel weiter, andererseits bringt sie anonym den Artikel „Geheime Billigarbeitskräfte in NEUDA“ in die Zeitung.
Die Ungeheuerlichkeiten nehmen weiter zu und als dann Jenny Beck auch noch das Tagebuch des Tucana-Mitarbeiters entdeckt, der einer der Mörder von Morags Familie war, enthüllt sich ein Abgrund von Kriminalität und Hinterhältigkeit dieses Konzerns, der dem rechtsgerichteten Bundeskanzler so nahe steht. Der nun gerade zum Wahlkampf gezwungen ist.
Das läutet Kapitel XXXVI ein mit ganz großen Umwälzungen nicht nur für NEUDA und die schwer unter Folgeschäden leidende Morag mittendrin. Die es aber immerhin angesichts von einem Frauenanteil von 3:1 in der Smart City noch schafft, eine Frauenpartei zu gründen.
Ob es in dieser Geschichte, die in einer reichlich nahen Zukunft spielt, ein Happyend geben kann? Man bedenke, dass dies ein dystopischer Roman ist und dass es Parteien und politisches Denken wie hier sehr real gibt. Und nicht nur in Österreich, denkt man an eine ähnlich blaue Partei in Deutschland oder gleichgesinnte mächtige Männer im Weißen Haus.
„Smart City“ ist ein ebenso brillanter wie beunruhigender Roman mit schonungsloser, bitterböser Gesellschaftskritik. Und es sei gerade auch deshalb das Prädikat „Buch des Jahres 2025 erlaubt.


# Daniel Wisser: Smart City; 412 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)