- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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DIRK GIESELMANN: „ZEIT IHRES LEBENS“
Es gibt solche Tage, an denen Dinge passieren, die unwahrscheinlich aber nicht unmöglich sind. Noch nie hatte Lehrerin Frieda Brunner verschlafen und dann vergaß sie in der Hast zur Straßenbahn auch noch ihren Regenschirm und es regnete in Strömen.
An der Haltestelle wird Georg Neumann mit seinem großen schwarzen Schirm ihr Retter an diesem März-Tag im Jahr 1983. Danach wissen sie nur den Vornamen voneinander. Und dass es der Anfang von etwas Besonderem ist.
Mit diesen Szenen beginnt Dirk Gieselmanns neuer Roman „Zeit ihres Lebens“, der eine recht einfache und doch außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählt. Georg ist 41, als er Frieda erstmals in der Stadt begegnet, in die er als Vertreter für medizinische Geräte jeweils im März, im Juni, im September und im Dezember fährt.
Er ist ein sehr durchschnittlicher Mann, unauffällig und ohne irgendeine Begeisterung: „Er wollte leben, doch er war nur vorhanden.“ Das galt auch für seine längst eingeschlafene Ehe mit Anne. Seit zwölf Jahren verheiratet, Sohn Christopher ist neun, ihr durchschnittlicher Bungalow mit einer Hypothek belastet. Zuweilen sind lästige Sonntagsbesuche bei den Schwiegereltern fällig und Rauhaardackel Bruno ist das einzige Wesen, dem sich Georg so ganz anvertraut.
Frieda ist drei Jahre jünger, recht hübsch aber solo. Es hatte ein paar „Techtelmechtel“ gegeben, wie sie es selbst etwas altertümlich nannte, mehr nicht: „Aber vielleicht kam das Glück ja noch eines Tages.“ Ansonsten genoss sie ihre gemütlich Wohnung und an Wochenenden besuchte sie ihren alleinstehenden Vater, einen etwas verschrobenen Professor für alte Sprachen.
Georg empfindet zu Hause noch mehr Schwermut. Um so zielstrebiger sucht der sonst so Willensschwache beim nächsten Besuch in Friedas Stadt nach ihr. Und als sie einander in die Augen schauen, ist klar: das hier ist die große Liebe, von der sie zaghaft geträumt hatten.
Es beginnen die wenigen regelmäßigen Treffen, jeweils nur vier Tage in den vier Vertreterwochen in ihrer Stadt. Trotz – oder vielleicht sogar gerade wegen – der intensiven Gefühle gibt Frieda ihrer Liebe jedoch nur eine Chance, wenn sie ein Geheimnis bleibt. Sie will sich nicht in seine Ehe drängen und so beschließen sie es und außerhalb ihrer Zeiten schreibt er einfache, aber sehr zärtliche Briefe.
Schwieriger wird es für ihr kleines, von keinerlei Alltagseinerlei beeinträchtigtes Glück, als Georg 1999 vom neuen jungen Chef vorzeitig in den Ruhestand geschickt wird. Es erschwert die Besuche und oft müssen Telefonate reichen.
Eine gewisse Trauer schleicht sich in diese ebenso einfache wie besondere Liebesgeschichte, in der vieles allmählich schwindet, nur die Tiefe ihrer Zuneigung nicht. Georg kann dem Ruhestand nicht viel abgewinnen, während sich Frieda viel um ihren Vater kümmert. Zu dessen Beerdigung im Jahr 2007 fährt Georg und es wird ungeahnt und ungewollt ihr letztes Beisammensein. Und auch Frieda geht in Pension, wird zudem vergesslich. Doch es wird noch ein Wiedersehen geben und mit einiger Melancholie ist auch nach 40 Jahren ohne jeden gemeinsamen Alltag eines geblieben: ihre große Liebe.
Damit schließt ein Roman, dem es bei aller feinfühligen Lebensnähe gelingt, nicht dem Kitsch zu verfallen sondern etwas zutiefst Menschliches, Schönes und Ernstes zu erzählen.
# Dirk Gieselmann: Zeit ihres Lebens; 224 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 22,99
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
