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DIRK STERMANN: „DIE REPUBLIK DER IRREN“
Der Bauernjunge Cherubino wird in Teramo in der größten Nervenheilanstalt Italiens zum Pfleger ausgebildet. Sein Lehrmeister ist der Direktor Dr. Garbini, ein glühender Nationalist, der dafür sorgen wird, dass der einfache junge Mann aus den Abruzzen bald ein ungleich größeres Irrenhaus kennenlernen wird.
Mit diesen Schilderungen des Ich-Erzählers Cherubino beginnt auch Dirk Stermanns jüngster Roman „Die Republik der Irren“. Dr. Garbini hat ein ganz spezielles Idol, den berühmtesten italienischen Dichter dieser Zeit Gabriele d'Annunzio. Der ebenso dekadente wie überkandidelte Ästhet ist jedoch außerdem ein umjubelter Jagdflieger und Kriegsheld des Ersten Weltkriegs.
Und nicht zu vergessen: er zählt zu den Irredentisten, einer präfaschistischen Bewegung, die sich gegen die eben beschlossene neue Nachkriegsordnung auflehnen. Unter anderem Teile des bisher österreichisch-ungarischen Dalmatiens beanspruchen sie für Italien. Prompt schart der charismatische Dichterfürst rund 2.500 Ex-Soldaten um sich, kampferprobte „Arditti“, und erobert mit ihnen im Handstreich die Hafenstadt Fiume (heute Rijeka).
Damit entsteht im September 1919 die „Republik Fiume“ und zugleich der verrückteste Staat aller Zeiten. Immerhin stehen an der Seite d'Annunzios illustre Typen wie Giodo Baron Keller von Kellerer und Wolkenkeller, ein tollkühner Flieger, Nudist und Utopist.
Der den „Futurismus“ allgemein durchsetzen will, den der ebenfalls in diesem Dunstkreis waltende Schriftsteller und Künstler Tommaso Marinetti begründete: „Wir Futuristen sind endlich wach und wecken jetzt den Rest Italiens!“ Erstmal aber errichten all die hier versammelten Durchgeknallten ein Regime der freien Liebe, der Religionsfreiheit, des moralbefreiten alltäglichen Festzustands.
Und um die alte morsche Welt neu aufzubauen, braucht es die Sprengkraft des Wahnsinns. Hier nun kommt Cherubino wieder ins Spiel, denn die Herrschenden wollen dazu die angemessene Regierung schaffen, in der sämtliche Minister Irre sein sollen. Aus Teramo bringt Cherubino deshalb seinen Schützling Zino, einen bärenstarken Axt,örder. Der jedoch nach einer Lobotomie (Hirnoperation) als lethargisch und lammfromm gilt.
Zino wird zum Minister für Handstreiche ernannt, allerdings wird Cherubino bald nervös, denn die ruhigstellenden Medikamente gehen zur Neige und Zino lernt die Freuden des Saufens kennen. Was ihn zunehmend außer Kontrolle geraten lässt.
Wie alles in diesem von Exzessen und Verrücktheiten brodelnden Irrenhaus. In dem scih der stets massiv mit Parfüm eingenebelte d'Annunzio lieber mit seinen Windhunden als mit dem Regieren beschäftigt. Ganz nebenher sammelt unter seinen Mitregenten im Übrigen ein gewisser Benito Mussolini mit seinen Schwarzhemden wichtige erfahrungen für die faschistische Diktatur, der er schon bald errichten wird.
Erst einmal aber taumelt die hemmungslos vor sich hin feiernde Republik dem Ende entgegen. Und zumindest die Exaltierten um d'Annunzio werden bereits in den letzten Tagen des Jahres 1920 von regulären Truppen vertrieben, nachdem das Schlachtschiff „Andrea Doria“ auf dessen Regierungspalast geschossen hat.
Endgültig vorbei ist der Spuk erst 1924, aber – all das und die meisten Akteure dieses Romans sind nicht dem zugekifften Gehirn eines spinnerten Literaten entsprungen. Das stellt Dirk Stermann in seinem Nachwort deutlich heraus: „Was in diesem Roman am unglaubwürdigsten klingt, entspricht in der Regel den historischen Tatsachen.“ Die jedoch hat der aus Duisburg stammende Wahl-Wiener zu einer nüchtern erzählten schrägen bis schrillen Realsatire umgesetzt.


# Dirk Stermann: Die Republik der Irren; 302 Seiten; Rowohlt Hundert Augen, Hamburg; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)