- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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JOEL DICKER: „EIN UNGEZÄHMTES TIER“
„Am 2. Juli 2022 sorgte ein spektakulärer Raubüberfall in Genf für große Aufregung.“ Diese Neugier erweckende Mitteilung eröffnet Joel Dickers siebten Roman unter dem Titel „Ein ungezähmtes Tier“.
Dann aber führt der Schweizer Erfolgsautor erst einmal zu einem Paar, das einfach beneidenswert perfekt ist: Sophie und Arpad Braun. Sie wohnen in einem eleganten, von Wald umgebenen Glaskubus, nur wenige Autominuten außerhalb Genfs. Die bildschöne Rechtsanwältin steht kurz vor ihrem 40. Geburtstag, doch auch Banker Arpad sieht blendend aus.
Sie lieben einander innig, haben zwei kleine Kinder und wirtschaftlich geht es ihnen bestens. Sie ahnen jedoch nicht, dass ihr Haus seit kurzem allmorgendlich von einem Mann beobachtet wird. Es ist der Polizist Greg Liègan, der Sophie bei einer Einladung zu einer Party bei den Brauns kennengelernt hat.
Mit fatalen Folgen, denn seither ist er gegen jede Vernunft in die Schöne vernarrt. Besonders ergötzt er sich an ihrem Anblick, wenn sie frühmorgens nackt durchs Haus läuft und er das hinreißende Tattoo eines Panthers auf ihrem Oberschenkel bei ihren geschmeidigen Bewegungen sieht.
Das perfekte Bild der Brauns und diese spezielle Faszination kontrastieren massiv mit Gregs bescheidenen Eigenheim, der eher braven Ehefrau Karine und den beiden wilden Kindern. Dann aber fliegt Greg eines Morgens um ein Haar auf, als sein Diensthandy unversehens anschlägt und Sophie für den Bruchteil einer Sekunde den Lichtschein am Waldesrand sieht.
Doch während die panisch beunruhigte Sophie ausgerechnet Greg um Hilfe bittet, ohne zu wissen, dass der nicht einfach nur Polizist sondern Leiter der Interventionsgruppe (vergleichbar SEK) ist, folgt der trotz allem seinem Drang zum Beobachten weiter. Und – vertreibt dabei eine andere Person, die das Haus beobachtet.
Auch für diesen „Mann im grauen Peugeot“ ist Sophie die Zielperson und sein Erscheinen eröffnet für Greg nicht nur auf ausdrücklichen Wunsch ein willkommenes Kümmern um den Glaskubus, insbesondere wenn die Familie abwesend ist. Er treibt seine heimlichen Eskapaden sogar so weit, dass er eine Mini-Observierungskamera aus Dienstbeständen im Schlafzimmer installiert.
Aber – all diese Begebenheiten sind nur Teil einer vielschichtigen Entwicklung, die in atemberaubender Weise zwischen zeitlichen Ebenen hin- und herspringt. Da waren Arpad und Sophie schon 2007 in ihrem Heimatort St. Tropez ein Liebespaar, bis er über Nacht spurlos verschwand.
Nach der Wiederbegegnung zwei Jahre später in Genf wurden sie umgehend zu einer richtigen Familie. In der Arpad sich gegenüber der Aura der großartigen Sophie nur deshalb halbwegs ebenbürtig vorkommt, weil er deutlich mehr verdient als sie. Wenn das denn überhaupt zutrifft, wie er zu seiner Verblüffung erfahren muss.
Und während Greg wegen seiner Manie Ehe und Karriere aufs Spiel setzt, ahnt man auch hinter dem beneidenswerten Bild der Braun-Familie erste Abgründe. All dies springt im Rahmen eines fiebrigen Countdowns („xx Tage vor dem Raubüberfall“) in einem Wirbel der zeitlichen Abläufe hin und her. Doch dieses Spiel ist so genial aufgezogen, dass man nie den Faden verliert. Stattdessen reißt dieser grandios komponierte Thriller unweigerlich bis zur letzten Zeile mit.
So viel Glanz, so viele dunkle Geheimnisse und so viele frappierende Entdeckungen, Volten und Überraschungen – von denen natürlich nichts verraten werden darf. Sprachlich ist das eher schlicht gehalten, als Spannungsliteratut aber ist „Ein gezähmtes Tier“ gerade auch dank seiner hinreißenden Akteure ein wahrer Leckerbissen, Und absolut filmreif sowieso.
# Joel Dicker: Ein ungezähmtes Tier (aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma), 426 Seiten; Piper Verlag, München; € 26
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)