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JARDINE LIBAIRE: „DEIN HERZ, EIN WILDES TIER“
„Dies ist eine Liebesgeschichte, nebenbei gesagt.“ So lautet der erste Satz von Jardine Libaires Roman „Dein Herz, ein wildes Tier“. Der aber lange in Vergessenheit gerät, denn romantische Gefühle spielen lange Zeit eine sehr untergeordnete Rolle.
Stattdessen geht es ziemlich rau zu in dem abgelegenen ehemaligen Pfadfinder-Camp im Südosten Oklahomas. Tim ist der bräsige Boss hier über Wohngemeinschaften mit insgesamt 16 Leuten, allesamt ebenso heruntergekommen wie das Lager und er selbst.
Niemand hat die Nummer 17 hier erwartet, die von ihrem Cousin quasi wie ein Paket abgeliefert wird. Coral heißt die 17-Jährige, die offenbar taubstumm und außerdem sehr scheu ist. Wie sie später erfahren, wurde sie von ihren jetzt umgekommenen Junkie-Eltern von klein auf als Alibi für ihre Beschaffungskriminalität missbraucht und dabei auch durch körperliche Blessuren schwer traumatisiert.
Ernie, mit seinen 34 Jahren eine Art abgewetzter Rocker-Jesus, nimmt sich ihrer unbeholfen an. Und dann überrascht sie alle, als sie sich wie selbstverständlich dem Baby von Shayna widmet, Tims Partnerin, die nicht stillen kann.
Dann aber ist mal wieder ein Einkaufstrip dringend nötig. Zu dem Ernie zusammen mit dem Pärchen Ray und Staci auf zwei schweren Motorrädern aufbricht. Und er nimmt aus einem Impuls heraus Coral mit – auf einen Roadtrip ohne Wiederkehr.
Vorm Einkaufen übernehmen die in der Stadt 10.000 Dollar von einem Dealer für Tim, der im Camp eine immer größer betriebene Drogenküche unterhält. Als das Quartett dann zum Camp zurückfahrt, sehen sie schon von weitem dunkle Rauchwolken und viel Blaulicht. Wie sie später erfahren, hat es wohl beim Drogenkochen eine Explosion gegeben.
So finden sich die Vier plötzlich auf der Flucht, die sie auf vielen Umwegen in die weite Ödnis von Texas führt. Vier Entwurzelte verbringen die erste Fluchtnacht in einem Motel: die schon ziemlich angewelkte Staci, die als ehemalige Stripperin früh sexuelle Ausbeutung kennengelernt hat und es seit Jahren mit dem deutlich älteren Ray aushält. Der säuft zwar gern und wird dann aggressiv, doch er versorgt und schützt sie.
Ernie selbst ist ebenfalls eine kaputte Type mit höchst unerfreulicher Jugend und von Coral wissen sie nur Ungefähres. Doch es ist Ernie, der bei aller Ratlosigkeit die Richtung vorgibt: Wir passen vielleicht nicht zusammen, aber es ist trotzdem besser, wenn wie uns nicht trennen.“
So mieten sie schließlich weit abgelegen eine zerfallene Farm, die sich sich mühsam herrichten. Eine mehr als seltsame Schicksalsgemeinschaft, die zudem ständig fürchten muss, dass Tim sei eines Tages wegen der 10.000 Dollar aufspüren wird. Von denen sie nun weitgehend leben, plus dem einen oder anderen krummen Ding.
Ein stetes stummes Rätsel bleibt dabei Coral. Sie brütet in ihrer sprachlosen Stille, sie verweigert sich auch sonst jeder Kommunikation. Worunter besonders Ernie leidet, der sich längst nicht nur um sie sorgt, sondern sich auch verzweifelt in sie verliebt hat.
Und dann noch einen besonderen Grund zur Eifersucht bekommt, als das Quartett von einem aufgeflogenen Kriminellen einen Geparden übernimmt. Coral entwickelt eine seltsame Beziehung zu der Wildkatze – was in den Schilderungen noch mehr fesselt als das ohnehin schon komplexe Miteinander.
Geschrieben ist das alles in angemessen schnörkelloser Umgangssprache und mit einzigartigen Charakterzeichnungen. Dieser Roman überzeugt außerdem mit filmreifen Szenen und Dialogen und – entgegen den Erwartungen gibt es tatsächlich eine Art Happyend.


# Jardine Libaire: Dein Herz, ein wildes Tier (aus dem Amerikanischen von Eva Regul); 320 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)