- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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LAI WEN: „HIMMLISCHER FRIEDEN“
Lai Wen wurde 1970 in Beijing geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend in einem turbulenten Arbeiterviertel der chinesischen Hauptstadt. Und: „Ich wuchs in den Nachwehen des Maoismus auf.“ Das bedeutet für sie, dass ihr Vater, ein Kartograf, ein indifferenter, gebrochener Mensch ist. Offenbar während der sogenannten Kulturrevolution gedemütigt und vermutlich auch gefoltert, wie Lai später ansatzweise heraushört. Im Gegensatz dazu gibt sich ihre Mutter nicht nur tyrannisch und distanziert, sie äußert sich auch begeistert staatsergeben.
Lai Wen ist allerdings nur ein Pseudonym der wahren Autorin, die heute in Großbritannien lebt. Dies ist ihr Debütroman und wenn der Titel „Himmlischer Frieden“ lautet, dann folgerichtig nach jenem Tiananmen-Platz – also Platz des Himmlischen Friedens - auf dem am 4. Juni 1989 die friedlichen Studentenproteste blutig niedergeschlagen wurden. Die Geschichte, die Lai Wen als Ich-Erzählerin ausbreitet, darf als weitgehend autobiografisch angesehen werden, und die Autorin hatte in jenem fatalen Juni das Glück, n ach Kanada flüchten zu können. Doch dieser umfangreiche Roman ist keine Chronik der schlimmen Ereignisse, sondern der eines jungen Lebens vom Kind bis zum 19. Lebensjahr.
Lai lebt mit den Eltern und dem kleinen Bruder in bescheidenen Verhältnissen, ihr geliebter und ungeheuer wichtiger Mittelpunkt der Familie ist die unerschütterliche und auf recht grantige Weise warmherzige Großmutter: „Sie schenkte mir Trost.“
Das Mädchen ist zwar intelligent aber auch voller Ängste. Und während die gesellschaftlichen Verhältnisse mit der allgegenwärtigen Staatsmacht und den Gegebenheiten des Alltags im breiten Erzählfluss ein deutlich konturenreiches Bild jener Zeit entstehen lassen, kommt es zu einem unvergesslichen Erlebnis für Lai.
Mit ihrem Spielkameraden Gen hat die kleine Schülerin eine abendliche Ausgangssperre nicht beachtet und sie werden aufgegriffen. In überzogener Härte wird ihr beim brachialen Zugriff eine Schulter ausgekugelt. Natürlich völlig zu Recht, denn dieses Zuwiderhandeln gilt als „unverfrorener Akt antipatriotischer Sabotage.“
Was Lai um so härter trifft, weil sie sich selbst als immer gehorsames Kind beschreibt. Sie muss nun sogar froh sein, dass Gen die „Schuld“ auf sich nimmt. Ihn sieht sie dann erst auf der höheren Schule wieder. Da kommen sie einander auch als Teenager etwas näher, doch die Unterschiede ihrer Herkunft trennen sie – sein Vater ist höherer Funktionär.
Zwei Begleiterscheinungen sind für die weitere Entwicklung Lais in diesen Jahren von größter Bedeutung. Zum Einen schwindet die Großmutter zunehmend als ruhender Pol in die Demenz und stirbt schließlich. Für das Bewusstsein Lais und ihren Blick auf die reale Welt aber spielt ein alter Buchhändler eine immense Rolle. Bei ihm liest sie erstmals solche in der Volksrepublik jener Tage heiklen Bücher wie George Orwells „1984“.
Und sie schafft die Aufnahme an der Universität zum Literaturstudium.Wie ein Sog wirken dort die offenen Debatten und auch Lai wird allmählich politischer im Denken und Sprechen. Wieder begegnet sie Gen, der selbst zum regimekritischen Redner avanciert.
Seiner Mahnung von der „dringlichen Notwendigkeit, sich politisch zu engagieren“, folgt Lai mit Bangen, lässt sich jedoch von der Aufbruchstimmung anstecken. Die sich dann ab dem 17. April 1989 mit einer Aktion bahn bricht.
Der Tod des liberalen Mitglieds des Politbüros der Kommunistischen Partei Hu Yaobang, der in den Vorjahren öffentlich Forderungen nach mehr demokratischen Rechten gestellt hatte und dann zum Rücktritt gezwungen wurde, dient als Anlass für große Trauerkundgebungen auf dem Tientanan-Platz, wobei Yaobangs Thesen unverhohlen deklamiert werden.
Je mehr diese Versammlungen Zulauf gewinnen, desto schärfer verurteilt die Staatsmacht die friedlichen Demonstranten als Staatsfeinde und wirft ihnen „eine geplante Verschwörung“ vor. Während die selbsternannten Marodeure mit Hungerstreik und weißen Stirnbändern reagieren, ruft die Regierung am 2. Juni das Kriegsrecht einschließlich Ausgangssperre aus.
Lai ist mittendrin im Wogen der Ereignisse mit dem Ausbruch der Gewalt, als die Soldaten ohne Vorwarnung scharf schießen und Panzer Demonstranten überrollen – Bilder, die dann um die Welt gehen.
So endet der beinah beschaulich beginnende Roman in erschütternden Szenen und Lai Wen stellt zum Schluss klar, dass ihre Schilderungen „auch ein Stück wahre Historie“ sind. Und das ist neben den literarischen Qualitäten dieses Werkes das, was seine Einzigartigkeit ausmacht: was sie erzählt, ist authentisch aus eigenem unmittelbarem Erleben.
# Lai Wen: Himmlischer Frieden (aus dem Englischen von Judith Schwaab); 560 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 24,99
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)