- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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SALMAN RUSHDIE: „DIE ELFTE STUNDE“
Nach seinem Memoir „Knife“ über das beinah tödliche Messerattentat auf ihn, legt Salman Rushdie nun erstmals wieder ein Buch mit Fiktivem vor. Fünf Erzählungen sind es, wovon die drei drei umfangreicheren Novellen in der Zeit „danach“ entstanden sind. Als Prolog dient „Im Süden“, eine erstmals 2009 veröffentlichte Kurzgeschichte, während die Geschichte vom alten Mann auf der Piazza fünf Jahr alt ist und den Epilog gibt.
„Die elfte Stunde“ lautet der Gesamttitel und er findet sich in einem dieser funkelnden Sätze aus der Eingangsgeschichte wieder, mit denen Salman Rushdie von jeher faszinierte: „Hielt man das Alter für einen Abend, der in der Mitternacht des Vergessens endete, war die elfte Stunde für sie längst angebrochen.“
Es sind die beiden 81-Jährigen aus „Im Süden“, die wegen desselben Vornamens nur V-Senior und V-Junior genannt werden (wegen 18 Tagen Altersunterschied!), die täglich auf ihren aneinandergrenzenden Veranden stritten. Wobei es wie auch sonst in diesem Buch vor allem um Leben und Tod geht.
Da wünscht sich Senior endlich den Tod, obwohl er ein reiches, erfülltes Leben hatte, während Junior, von jeher gezeichnet von der Krankheit der Mittelmäßigkeit, trotz seines enttäuschenden Lebens dieses weiter mit Lust genießt. Wie diese auf leichtfüßige Weise philophische Geschichte spielt dann auch „Die Musikerin von Kahani“ in Rushdies Geburtsheimat Indien.
Sie spannt sich über Jahrzehnte und in ihrer Mitte steht Chandni, einst als musikalisches Wunderkind so sehr gefeiert, dass sich Majnoo, ein Milliardärssohn, in sie verliebt. Nach ihrer Märchenhochzeit wird Chandni jedoch alles andere als glücklich und schließlich verwandelt sie sich zu einer Musikerin mit zerstörerischen Kräften.
Von der fernöstlichen Märchenhaftigkeit wechselt die nächste Geschichte – wie einst der Autor auch – nach England und hier nach Cambridge. Und Rushdies mal subtiler, mal skurriler und herrlich bildhafter Humor wartet mit einem genussvollen Spiel auf. „Als Ehrenfellow S. M. Arthur in seinem dunklen College-Schlafzimmer aufwachte, war er tot, was jedoch anfangs nichts zu ändern schien“, so der trockene Eingangssatz.
Der mit eben 61 Jahren verblichene Wissenschaftler staunt, dass das Totsein offenbar nicht abrupt in voller Gänze eintritt. Und er hätte da noch eine Rechnung zu begleichen mit einem alten Peiniger, der ihn einst zur chemischen Kastrationen gezwungen hatte, andernfalls hätten ihm wegen seiner Homosexualität das Aus und sogar Gefängnis gedroht.
Wie das Vorbild Alan Turing war Arthur einst einer der Helden im Entschlüsselungszentrum Bletchley Park gewesen, und nun will er sich für die ihm angetane Schmach rächen. Dabei wird seine Wonne noch verfeinert durch die jungem aus Indien stammende Studentin Rosa noch verfeinert, denn sie ist die Einzige, die den erst allmählich verschwindenden Untoten noch sehen und mit kommunizieren kann.
Die vierte Erzählung „Oklahoma“ erweist sich als vielschichtig und komplex und sie führt in die USA, der dritten und aktuellen Heimat Rushdies. Hier nun spielt auch der Epilog unter dem Titel „Der alte Mann auf der Piazza“. In einer von Streit geplagten Gesellschaft wird der Alte zum Weisen, der immer mehr Ratsuchenden sagt, was richtig und was falsch ist.
Sterblichkeit, Abschiede, Heimat und vieles mehr ziehen sich durch alle fünf Erzählungen und Rushdies Fabulierlust ist ungebrochen. Und er hat einen weiteren großen Roman versprochen. So muss man sich zunächst mit dieser kleinen aber feinen „Zwischenmahlzeit“ begnügen. Die im Übrigen einmal mehr von Bernhard kongenial ins Deutsche übertragen worden ist.
# Salman Rushdie: „Die elfte Stunde. Fünf Erzählungen (aus dem Englischen von Bernhard Robben), 286 Seiten; Penguin Verlag, München; € 26
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
