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STEFFEN KOPETZKY: „ATOM“
Die Welt der Spionage würde hinken oder gar blind bleiben ohne jene technisch-wissenschaftlichen Analytiker, die nicht als Agenten beim Gegner ein gefährliches Handwerk betreiben, sondern für die Auswertungen mutmaßlicher oder aufgedeckter Geheimnisse sorgen.
Einen solchen stellt Steffen Kopetzky in seinem jüngsten Historienroman unter dem Titel „Atom“ in den Mittelpunkt. Simon Batley ist 25 Jahre alt und Physikstudent, als ihn der MI6 mit einer einmaligen Chance in die Dienste des britischen Geheimdienstes lockt: ein Auslandsstipendium in Berlin und dort bei keinem Geringeren als Albert Einstein.
Zielperson ist allerdings der russische Kommilitone Sascha, den er ausspionieren soll. Was Batley auch hervorragend gelingt, während er sich zugleich unsterblich in dessen Freundin Hedi von Treydel verliebt, eine hochtalentierte Mathematikerin.
Als Batley zehn Jahre später als promovierter Physiker heimkehrt, will er nie wieder etwas mit dem Geheimdienst zu tun haben, denn es hat einen traumatischen Zwischenfall gegeben. Erst später klingt durch, dass Sascha in die Sowjetunion zurückbeordert und zu den ersten Opfern von Stalins Säuberungswahn wurde.
Dann jedoch bricht der Zweite Weltkrieg aus und Batleys damaliger Führungsoffizier fängt ihn erneut für den MI6 ein. Diesmal mit einem höchst geheimen Papier eines besorgten deutschen Wissenschaftlers an die britische Botschaft in Norwegen, dem „Oslo-Report“ - ebenso historisch verbürgt wie die meisten der im Roman benannten Fakten und Details.
In der neuen Abteilung „Scientific Intelligence“ erkennt man die Bedeutung der geschilderten Geheimwaffenforschung des Nazi-Regimes. Sind dies modernste Technologien wie für Bomber und Radar, elektrisiert Batley im April 1940 ein Telegramm des Physikers Niels Bohr aus dem soeben besetzten Dänemark: es legt nahe, dass sich die Deutschen mit der Atomforschung befassen, mit dem Ziel, eine Atombombe zu bauen!
Obwohl das Geschehen vorläufig in beinahe bedächtigem Fluss geschildert wird, zeiht es längst als höchst authentischer Wissenschaftsthriller in den Bann. Zumal Baltey mit technisch geschulter Fantasie bald auf beunruhigende Gedankenkombinationen stößt: wenn die Deutschen einerseits an einer solchen unheimlichen Bombe bauen und andererseits immer mehr Informationen über ihre Raketenentwicklung auftauchen...
Enttäuschend verlaufen da diesbezügliche Aushorchversuche Batleys gegenüber Rudolf Heß, nachdem der politische Stellvertreter Adolf Hitlers im April 1941 in einer skurrilen Einzelaktion nach Schottland geflogen war und nun auf „Friedenssondierungen“ auf höchster Ebene wartet. Die Ergebnisse sind mager, aber köstlich süffisant geschildert.
Während einerseits mit Kommandounternehmen auf das norwegische Wasserkraftwerk in der Telemark versucht wird, den Deutschen das für den Atomwaffenbau benötigte sogenannte Schwere Wasser zu entreißen, gesellt sich zu dem bescheidenen britischen Atomforschungsprogramm „Tube Alloy“ im Herbst 1942 das ungleich größere „Manhattan Project“ der Amerikaner.
Batley erfährt zugleich bei Abhöraktionen gefangener deustcher Generäle von Fortschritten in der Raketentechnik und schon Heilig Abend 1942 gelingt der Erstflug der Fieseler 103 „Kirchkern“, der sogenannten V 1 („Vergeltungswaffe 1“). Und das ist erst die Vorstufe zur weitaus gefährlicheren Rakete V 2. Deren Entwicklung dann selbst durch einen massiven Luftangriff auf das Versuchszentrum Peenemünde kaum verzögert wird.
Doch während 1943 britische und Exil-Wissenschaftler in Scharen zum „Manhattan-Project“ entsandt werden, hat Batley einen spannenden Auslandseinsatz: ein Geheimtreffen im neutralen Lissabon. Wo erneut historische echte Akteure mitmischen wie Ian Fleming (der spätere James-Bond-Autor) und der Bruder des deutschen Raketen-Genies Wernher von Braun.
Allerdings tauchen erstmals auch US-Emissäre auzf, die seltsame Kontakte knüpfen und – wie nicht nur Batley erst später deutlich erkennt – ein perfides Spiel um das hochkarätige technologische Wissen betreiben. Und während es in Lissabon unter anderem auch um das so wichtige Uran geht, tritt ein längst entscheidender Akteur im Hintergrund in Erscheinung: Hans Kammler.
Es hat lange gedauert, bis die ungeheure Bedeutung dieses SS-Generals auch von der Geschichte vollends erkannt wurde. Der Architekt und Baumeister der Konzentrationslager war der wahre Herrscher über Peenemünde und der sonstigen deutschen Geheimwaffenentwicklung. Und er ließ nicht nur unterirdische Produktionsstätten wie Mittelbau Dora bauen, er persönlich befehligte den Einsatz der V 2 gegen London und andere Ziele.
Und während Kammler als die große raffinierte Spinne im Netz der Geheimwaffenforschung angesichts des heraufziehenden Untergangs des Drittgen Reichs ein sehr eigenes Spiel aufzieht, gibt es für Batley nun doch noch einen sehr konkreten Agenteneinsatz.
Beim MI6 hegt man längst den Verdacht amerikanischer Winkelzüge für die eigenen Raketenforschung – und die deutschen Wissenschaftler dafür. Und die Sowjets sind mit ihm Rennen um sie. Einschließlich der genialen Mathematik-Spezialistin Dr. Hedwig von Treydel, die Batley zu einem packenden Finale tatsächlich wiedertrifft. Wobei beide einmal mehr auch als Charaktere überzeugen.
Was diesen Roman so faszinierend macht, ist seine Realitätsnähe, für die Steffen Kopetzky spürbar sehr intensiv recherchiert hat. Das erklärt auch das absolut filmreife Zeit- und Lokalkolorit. Fazit: ein Meisterwerk, das sich durchaus mit den ähnlich realen Thrillern eines John le Carré messen kann.


# Steffen Kopetzky: Atom; 412 Seiten; Rowohlt Verlag, Berlin; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)