- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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SUSANNE ABEL: „DU MUSST MEINE HAND FESTER HALTEN...“
Zuneigung, Fürsorge, genügend zu Essen, eine Schulbildung – all das brauchten diese entwurzelten, verwaisten Kinder eigentlich. Im Heim Listerhof gibt es stattdessen harsche Ordnung und Züchtigung bei noch so geringen Vergehen gegen die Regeln.
Das ist die belegte Realität in ganz vielen Kinderheimen in der Nachkriegszeit und bis in die 70er Jahre. Zudem wurden tausende Heimkinder regelmäßig Pillen zum Sedieren und/oder zur Unterdrückung des Geschlechtstriebs verabreicht und viele von ihnen außerdem als gefügige Versuchskaninchen für Impfstoffe und Psychopharmaka missbraucht.
Dieses schändliche Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, bei dem sich die kirchlichen Heime mit täglichen Erniedrigungen und Gewalttaten besonders hervortaten, war für Susanne Abel Auslöser für ihren neuen Roman „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“.
Der Titel weist hin auf eine entscheidende Begegnung zwischen Margaret und Hardy, der vorläufig aber nur diese Nummer trug. Mit einem Kindertransport aus dem Osten kam er an, wusste weder Namen noch Altern, sein Namensschild um den Hals aber war verwischt. Man schätzte ihn auf drei Jahre und nannte ihn Hartmut.
Im Heim dann lernt er Kälte, Hunger und körperliche Züchtigung kennen. Da zu seinen typischen Hospitalismusschäden auch das Bettnässen kommt, wird er bestraft: Einzelzelle und verschimmeltes Brot. Das er natürlich erbricht, wofür er natürlich erneut bestraft wird. Welch ein glücklicher Tag, als ihn die etwa acht Jahre ältere Margret, verwaist wie er, unter ihre Obhut nimmt, so weit das möglich ist.
Vor den Grausamkeiten, die in diesem von Nonnen betriebenen Heim im tiefsten Sauerland, wo es am katholischsten ist, kann ihn auch Margret nur wenig schützen. Zumal er nicht mehr spricht und deshalb als „debil“ eingeordnet wird. Dann wird Margret auch noch von einer Verwandten aus dem Heim geholt und es wird noch schlimmer für ihn.
Wegen eines Vorfalls wird Hardy schließlich sogar für gefährlich erklärt und in das gefürchtete „Franz Sales Haus“ (das gab es wirklich!) überstellt. Wo er bis auf weiteres durch die – auch zu Versuchszwecken – verabreichten Pillen nur noch im Tran existiert.
Dass ihn Margret ausgerechnet hier ausfindig macht und mit ihm flüchten kann, ist eine der ganz seltenen Glücksmomente im Leben dieser gebeutelten Menschen. Doch auch die junge Frau hat Schlimmes hinter sich, denn obwohl sie bei einer Vergewaltigung das Opfer war, sperrte man sie in ein Heim für gefallene Mädchen.
Der Beginn dieses ebenso großartigen wie oft nur schwer zu ertragenden Romans aber führt ins Jahr 2006 und zu der fünfjährigen Emily, Urenkelin von Hardy und Margaret, die seit ihrer Befreiung aufs Engste miteinander verbunden geblieben sind. Die Kleine soll ins Heim, weil ihre Mutter Julia asoziale Verhaltensweisen aufzeigt.
Ähnlich wie ihre Mutter Sabine, die ebenfalls ein fernes Opfer all der Traumata und Dämonen ist, die Hardy und Margret in sich verschlossen, aber auch gewissermaßen vererbt haben. Selbst als sich die Urgroßeltern Emilys zur Pflege annehmen, bleibt das schon durch den unkontrollierbaren Kontrollzwang der Urgroßmutter problematisch.
Und die seelischen Missbildungen von Tochter und Enkelin sind nur die Fortsetzung der einstigen Verwüstungen, auch wenn Margret wie der stille Hardy das Alles verdrängt haben und eisern darüber schweigen.
Diese Geschichte geht tief unter die Haut und macht mit ihren sehr glaubwürdigen Personen und den realistischen menschenverachtenden Geschehnissen immer wieder fassungslos. Vor allem jedoch, weil Susanne Abel in ihrem Nachwort mit erschreckenden Fakten deutlich macht, wie authentisch dieser Roman ist.
# Susanne Abel: Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104; 541 Seiten; dtv Verlag, München; € 24
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
