- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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ULRIKE DRAESNER: „zu lieben“
„Alles, was hier zu lesen ist, hat sich mehr oder minder so zugetragen. Vor allem mehr. Die Abschnitte, die meine Tochter betreffen, konnten nicht erfunden werden. Erfindung hätte meine Tochter beleidigt.“
Dieses Zitat stellt klar, dass dieser Roman nicht wirklich einer ist. Was im Übrigen schon von außen signalisiert wird, wenn das unter dem Titel „zu lieben“ das Wort Roman steht, es aber durchgestrichen ist. Und solche gestrichenen Wörter finden sich in Text immer wieder, mit dem Ulrike Draesner einen außergewöhnlichen Schatz an eigenen Lebenserfahrungen schildert: ihre Mutterwerdung durch eine sogenannte Auslandsadoption.
Die Ich-Erzählerin ist verheiratet und hat bereits mehrere Fehlgeburten erlitten. Der Adoption eines hiesigen Kindes aber stehen strikte Regeln entgegen: mit 46 Jahren ist sie schlicht zu alt. Über eine Agentur versucht sie es also im Ausland und dann kommt tatsächlich der Anruf: es gibt da ein dreijähriges Mädchen in Sri Lanka, das in Frage kommt.
In Frage kommen könnte, denn erstens müssen sie und ihr Mann zu dem fremden Kind reisen, um in einem mehrwöchigen Prozess zu testen, ob sie zueinander „passen“. Und vor allem müssen auch all die bürokratischen Hürden bewältigt werden, die den deutschen durchaus ebenbürtig sind.
Doch Ulrike Draesner schildert die komplexen Vorgänge nicht einfach mit der ihr eigenen Sprachgewalt, denn dieser Roman ist ihr persönlichster und intimster. Mal ganz nah, unmittelbar, dann wieder nüchtern reflektierend beschreibt sie die Annäherung an „das dreijährige Mädchen, das die Welt wechseln muss.“
Zunächst aber müssen die Adoptionsanwärter in der exotischen Großstadt Colombo in dieses Kinderheim mit den vielen Kindern, das Mutter-Teresa-Schwestern leiten. Sie wissen, dass die kleine Mary nur deshalb überhaupt zur Verfügung steht, weil einheimische Bewerber kein Interesse an ihr hatten.
Hereingebracht aber wird das Kind – von deren leiblicher Mutter Thilini. Sie war bei der Geburt erst 13 und lebt derzeit mit der Kleinen selbst hier. Zugleich wäre die Weggabe Marys ihre einzige Chance in diesem traditionellen Wertesystem, heimzukehren in ihr Dorf und verheiratet zu werden.
Dieser Prozess der Annäherung an das Kind liest sich ungeheuer intensiv und sehr persönlich. Es geht nur ganz langsam und Ängste hat auch das Kind. Die sind so prägnant, dass Mary auch später noch lange keine Berührungen oder gar Umarmungen duldet.
Doch auch in der neuen Heimat braucht es viel Geduld und Sensibilität bei der Eingewöhnung von Eltern und Kind. Und wie bei so vielen Adoptionskindern geht es auch hier nicht ohne Hospitalismusprobleme ab. Da beschreibt die Autorin das sogenannte Schuckeln, mit dem das Kind den Kopf hin- und herrollt, sobald es abends im Bett liegt.
Verschwiegen wird jedoch auch nicht „das Deutschland der Blicke, die man abbekommt, wenn man mit einem andershautfarbigen Menschen an der Hand spazieren geht.“ (Anmerkung: die überwiegend singhalesische ethnische Menschengruppe Sri Lankas ist ausgesprochen dunkelhäutig). Und wenn Ulrike Draesner dann auch den schleichenden Trennungsprozess von Ehemann Hunter einräumen muss, gipfelt diese sehr spezielle Geschichte doch in dem alles erlösenden Satz „Mary ist meine Tochter.“
Fazit: ein außergewöhnlicher wahrer Roman, der nicht nur wegen seines Inhalts so tief berührt, sondern auch, weil er mit der ganzen Meisterschaft dieser vielfach preisgekrönten Autorin in eine besondere Form gegossen worden ist.
# Ulrike Draesner: zu lieben; 345 Seiten; Penguin Verlag, München; € 24
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
