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ANDREAS MOLITOR: „HERMANN GÖRING. MACHT UND EXZESS“
Im Nürnberger Kriegsgerichtsverfahren war Hermann Göring (1893-1946) der höchstrangige und in allen vier Anklagepunkten schuldig gesprochene Nazi-Kriegsverbrecher, Dennoch ist der lange Zeit zweitmächtigste Mann des Dritten Reichs und designierte Nachfolger Hitlers im allgemeinen Bewusstsein nicht als einer der schlimmsten Nazi-Bösewichter verankert.
Es sind die pompösen Bilder des fettleibigen Prunksüchtigen mit den Fantasieuniformen, seine Marotten als „Reichsjägermeister“, der im Keller mit der riesigen Modelleisenbahnanlage spielte und Unmengen an Kunstwerken für sich rauben ließ, die für ein Image in der Nachkriegszeit sorgten, das mit allerlei filmreifen Anekdoten und Mythen fast so etwas wie die Erscheinung eines „Nazis mit jovialem Gehabe“ erzeugten.
Wie weit dieses Bild vom tatsächlichen Sein und Wirken Görings entfernt ist, stellt Andreas Molitor jetzt heraus mit „Hermann Göring. Macht und Exzess“, der ersten umfassenden Biografie zu der Nazi-Größe seit Jahrzehnten. Der Autor gilt als Journalist mit ausgewiesener Expertise in historischen Themen und fundierte seine Ausführungen mit den aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Ein grundlegender Ansatz für das Verstehen der wahren Natur Görings ist dabei dessen bis dato eher vernachlässigten Kindheit und Jugend, die hier zu dem Gesamturteil „desaströs“ kommt. In gehobene Kreise geboren, sorgt von Beginn an eine hohe seelisch-emotionale Vernachlässigung durch Abschieben, Pflegefamilien und steter Benachteiligung gegenüber seine Geschwistern für eine deformierte Persönlichkeitsentwicklung.
So wie Molitor nüchtern aber detailliert darlegt, waren diese frühen Erfahrungen der breit angelegte Nährboden für einen emotionsunfähigen, berechnenden und bösartigen Narzissten mit einer gefährlichen Mischung aus Geltungssucht, Gier, Prunksucht und vor allem Skrupellosigkeit.
Der Biograf widerlegt im Übrigen die immer wieder gepflegte Mär, dass Görings Verhalten vor allem als Reichsluftmarschall und Wirtschaftslenker von seiner Opiumsucht geprägt gewesen sei. Die hatte Göring in den frühen 20er Jahren durchlitten nach Schussverletzungen beim misslungenen Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, war nach einer Entziehungskur jedoch nicht wieder rückfällig geworden..
Unbestritten war Göring allerdings tablettensüchtig und fiel nach den ersten großen persönlichen Misserfolgen häufig durch kaum begreifliche Teilnahmslosigkeit und Schläfrigkeit auf. Wenig beachtet blieb in den Schilderungen Görings oft, dass er bei seinem oft exaltierten Verhalten immerhin einen IQ von 138 aufwies und damit intellektuell hochbegabt war.
Aus den vielen Vieraugengesprächen des Psychologen Gustave M. Gilbert in Görings Zelle in Nürnberg zog dieser das Verdikt, der Nazi-Führer sei „ein leutseliger Psychopath“. Als solcher erscheint er tatsächlich schon früh, sei es als überehrgeiziger Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, sei es im Aufstieg an Hitlers Seite, und erst recht nach der Machtergreifung 1933.
Der Mann, der in seiner Außenwirkung als brutal-jovial galt, gründete die Gestapo und die ersten KZs. Und es war Göring, der Reinhard Heydrich 1941 den Auftrag für einen Gesamtentwurf für „die Endlösung der Judenfrage“ erteilte. Als Wirtschaftsführer bereitete er den Hungerplan für die Eroberung der Sowjetunion vor: „Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Land herausgeholt wird.“
Andererseits war es die extrem geltungsbedürftige Nummer 2 des Nazi-Regimes, die durch massives Versagen Hitlers Achtung verlor und mitverantwortlich für die Niederlage war. Als Göring im Mai 1940 in völliger Selbstüberschätzung Hitler dazu überredete, die vorpreschende Wehrmacht anzuhalten, weil seine Luftwaffe die 400.000 alliierten Soldaten ganz allein „eliminieren“ werde, konnten 340.000 von ihnen entkommen.
Eine frühe kriegsentscheidende Niederlage, der sich noch im selben Jahr eine weitere folgenreiche anschloss, als die „Battle of Britain“ entgegen seinen gloriosen Versprechungen mit massiven Verlusten erfolglos endete. Am Krieg zur Eroberung der Sowjetunion zeigte er dann bereits wenig Interesse und versagt Ende 1942 erneut katastrophal bei der Versorgung der in Stalingrad eingekesselten 6. Armee. Doch Größenwahn, Realitätsverlust und der Rückzug ins private Vergnügen zermürbten die Luftwaffe, zumal Göring bei der Personalwahl stets Ja-Sager statt Fachleuten um sich haben wollte.
Andreas Molitor arbeitet die dunklen Seiten dieser schillernden Figur in allen Facetten seines Wesens, Wirkens und Versagens auf ebenso fundierte wie spannend zu lesende Weise heraus. Man hat den selbstgefälligen Angeklagten vor Augen, aber auch den bräsigen Popanz, hinter dessen folklorehaftem Gebaren eine durch und durch gestörte bösartige Persönlichkeit steckte.
Fazit: eine gelungene Biografie, die unverzichtbare Aspekte der Geschichte des Dritten Reichs hervorragend und gut verständlich beleuchtet.


# Andreas Molitor: Hermann Göring. Macht und Exzess. Eine Biografie; 411 Seiten, div. SW-Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 32
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)