- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Biografien
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SANDRA RICHTER: „RAINER MARIA RILKE“
Viel ist über Rainer Maria Rilke (1875-1926) geschrieben worden einschließlich mehrerer Biografien. Zum 150. Geburtstag in diesem Jahr aber liegt nun eine vor, die anderen gegenüber Vorzüge hat, die sie zu einer vermutlich ultimativen machen.
Verfasst hat sie Sandra Richter, die sich bereits während ihres gesamten Berufslebens mit Rilke und seinem Werk befasst hat. Die Professorin für Neuere deutsche Literatur hatte als Leiterin des Literaturarchivs Marbach einen unschätzbaren Vorteil gegenüber anderen Biografen: die Möglichkeit der Auswertung des jüngst erworbenen Nachlasses des Dichters.
„Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben“ hat sie ihr Werk überschrieben, in dem sie durchaus Überraschendes offenbart. Kein Hehl macht auch sie allerdings daraus, dass der schwierige Poet ein kränkelnder, übersensibler Chaot war, der sich bevorzugt nur mit sich selbst beschäftigte und zugleich überaus begeisterungsfähig war.
Der geradezu manische Briefeschreiber war einerseits ein „Fluchttier“ mit dem Hang zu Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Sandra Richter belegt jedoch auch die andere Seite des stets Lebensneugierigen, der mit hoher Kontaktfreudigkeit ein regelrechter Netzwerker war. Und das mit beträchtlichem Erfolg.
Natürlich analysiert auch Richter die unglückliche Kindheit Rilkes, wo der an der eigenen Militärkarriere gehinderte Vater den musisch begabten Knaben in eine solche Laufbahn bringen wollte. Auch die Scheidung der Eltern, als der Junge erst neun war, sorgte für seelische Schäden.
Nichts aber so intensiv und folgenreich wie die krankhafte Marotte der Mutter. Die hatte den Tod der älteren Schwester von René – so Rilkes ursprünglicher Vorname – nie verwunden und zwang ihn in die Ersatzrolle. Über Jahre zwang sie ihn in Mädchenkleider und erzog ihn entsprechend. Die Beweisführung für seinen späteren häufig rücksichtslosen Umgang mit Frauen und sogar seiner Tochter fällt da nicht schwer.
Dann erlebte er als sehr junger Mann die außerordentliche Beziehung zu der 14 Jahre älteren freigeistigen Lou Andreas-Salomé, seiner „Lebensfrau“. Die vieles an ihm prägte bis hin zur Umbenennung in „Rainer Maria“ und ihn nach vier Jahren mit der Beendigung der Liebesaffäre in eine nie überwundene Verzweiflung stieß.
All diese seelischen Verwundungen ließen Rilke tatsächlich erwägen, ob er sich wegen seiner Ängste und Neurosen der eben aufkommenden Psychoanalyse zur Heilung anvertrauen sollte. Doch der längst mit einigem Erfolg in den Literaturbetrieb eingetauchte Dichter hegte den durchaus nicht abwegigen Verdacht, seine Seelenqualen und Zwänge stünden in direktem Zusammenhang mit seiner intensiven literarischen Schaffenskraft: was aber, wenn er davon „geheilt“ wäre?
Die ungeheure Menge an Korrespondenzen Rilkes förderte jedoch auch andere Feinheiten zutage, die das Bild des einsamen Eigenbrötlers korrigieren. So habe er eine Begabung für Freundschaften gehabt und sei gewiss weit weniger weltabgewandt gewesen, als häufig dargestellt.
Rainer Maria Rilke erscheint in dieser fundierten Biografie in einem konturenschärferen Bild, ein chaotisches und seltsam lebensuntüchtiges Faszinosum aber bleibt der ungebrochen populäre Dichter auch hier. Und vielleicht ist dies das ultimative Standardwerk dazu.
# Sandra Richter: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biografie; 478 Seiten, div. SW-Abb.; Insel Verlag, Berlin; € 28
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
