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FELIX BOHR: „VOR DEM UNTERGANG“
Das prächtige Refugium auf dem Obersalzberg und der spätestens seit dem Film „Der Untergang“ der ganz breiten Öffentlichkeit bekannte Führerbunker in der Berliner Wilhelmstraße sind als Adolf Hitlers zentrale Orte der Herrschaftsausübung im allgemeinen Bewusstsein.
Von der „Wolfsschanze“, jenem legendären Führerhauptquartier im Rastenburger Forst in Ostpreußen dagegen stehen lediglich die Ereignisse und Bilder des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944 plakativ vor Augen.
Ansonsten aber fehle es sogar weitgehend an Forschungsliteratur, stellt dazu der Historiker Felix Bohr fest. Dem Mangel hat er nun mit seiner Untersuchung unter dem Titel „Vor dem Untergang. Hitlers Jahre in der 'Wolfsschanze'“ abgeholfen. Bohr war selbst vor Ort, hat intensiv recherchiert und auch sogenannte Ego-Dokumente gesichtet, Niederschriften und Erinnerungen von Zeitzeugen. Bei denen es sich vielfach um Beschönigendes aus der Feder z.B. von Hitlers Kammerdiener oder Sekretärinnen handelt.
Was hier nun chronologisch erzählt wird, offenbart nicht nur einzigartige Einblicke in einen unglaublichen abgeschlossenen Mikrokosmos. Es zeigt den Führer in Reinkultur vom selbstherrlichen Sieger der Blitzkriege bis hin zum Wrack, als das der Diktator im November 1944 nach Berlin in den Führerbunker umzog.
Die Wahl dieses Führerhauptquartiers – das nur eines von über 20, aber das mit Abstand wichtigste war – fiel auf den Ort in Masuren (heute polnisch) wegen gleich mehrerer Vorteile. Durch den dichten Baumbestand war die geräumige Anlage nur schwer aus der Luft zu sichten, hatte zugleich aber Bahn- und Straßenanschluss und auch einen Flugplatz.
Hinzu kam die symbolische Bedeutung der Lage nahe der Grenze zur Sowjetunion. Der Überfall auf diese war bereits geplant, als die Bauarbeiten Ende 1940 begannen. Pünktlich zum Angriff im Juni 1941 zog Hitler hier mit seiner Entourage ein. Dafür waren rund 200 Gebäude entstanden, die meisten als Holzbaracken für Unterkünfte und Büros, aber auch ein Kino und eine Sauna.
Für den Oberbefehlshaber und seinen engsten Kreis gab es mindestens zehn Betonbunker mit meterdicken Wänden und Decken. Aufgeteilt war die von Hitler so getaufte Wolfsschanze in drei hermetisch abgeriegelte Sperrbezirke. Unter den dort wirkenden etwa 2.000 Menschen von höchsten Militärs bis hin zum Hilfspersonal befanden sich sogar Köche, die zuvor in Berliner Nobelhotels gearbeitet hatten.
Das eigentlich Spannende ist jedoch das Gebaren Hitlers mit teils erstaunlichen Macken, der bis rauf zu mächtigsten Militär- und NS-Rängen nur umgeben war von Lakaien und Ja-Sagern. Zudem war die Alltagswelt des Führerhauptquartiers isoliert, abgeschieden und fern von jedem Kampfgeschehen.
Hier umgab sich Hitler mit einem kleinen, ausgesuchten Kreis von Entscheidungsträgern. Je länger sein Verweilen in der Wolfsschanze dauerte, desto wahnhafter wurde er mit den zunehmenden schlechten Nachrichten von sämtlichen Fronten.
Was seinen Fanatismus insbesondere bezüglich des Holocaust jedoch nur noch steigerte. Den er in seinen stundenlangen nächtlichen „Teerunden“ mit endlosen Monologen in Worte kleidete. Denen dann in hemmungsloser Konsequenz Befehle folgten.
„Die Wolfsschanze war der Kosmos, in dem aus Gedanken Entschlüsse zu Taten wurden, die Millionen Menschen den Tod brachten.“ Zugleich war der Kreis derer, die ihn umgeben aber niemals Widerspruch äußern durften, eng umgrenzt. Und die erlebten einen Diktator mit sehr eigenem Tagesablauf, der meist erst gegen Mittag einsetzte, sich samt der – stets sehr einseitigen – nächtlichen Gesprächsrunden bis in die Morgenstunden zogen.
Über 800 Tage lang war die Wolfsschanze das Zentrum der Machtausübung im Dritten Reich, während Hitler nur halb so viel Zeit auf dem Berghof verbrachte und eher selten in Berlin weilte. In diesem Führerhauptquartier erlebte der Führer auch seine bittersten Momente.
Bis ins Detail schildert Historiker Bohr den massiven physischen und mentalen Verfall ab Februar 1943 nach der Niederlage in Stalingrad. Ohnehin vom Leibarzt stetig „auf Droge“ gehalten, erlitt Hitler einen Kollaps, eine Gelbsucht und sein Gliederzittern begann.
Im November 1944 zog die gesamte Entourage angesichts der heranrückenden Roten Armee nach Berlin ab, dem endgültigen Untergang entgegen. - Fazit: eine hervorragende Untersuchung, die zudem für die Geschichtsschreibung des Dritten Reichs eine bisher weitgehend offene Lücke schließt.


# Felix Bohr: Vor dem Untergang. Hitlers Jahre in der Wolfsschanze; 299 Seiten, div. SW-Abb.; Suhrkamp Verlag, Berlin; € 30
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)