- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Sachbücher
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HARALD JÄHNER: „WUNDERLAND“
Mit seinem preisgekrönten Sachbuch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955“ beschrieb Harald Jähner 2019 die zehn Jahre der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus. Nun widmet er sich mit seinem neuen Buch der legendären Wirtschaftswunderzeit.
„Wunderland. Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967“ lautet der Titel und der einstige Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste setzt diese Epoche zwischen zwei markante, sinnvolle Eckpunkte.
Als Westdeutschland Mitte der 50er Jahre durchstartete, erlebt es 1955 das wachstumsstärkste Jahr der deutschen Geschichte mit unglaublichen zwölf Prozent Wirtschaftswachstum. Einen Endpunkt und eine Art Normalisierung setzte dann im Jahr 1967 der erste Konjunktureinbruch nach ununterbrochenen Wachstumsjahren.
Dieses 1955 zieht aber auch sonst eine historische Linie deutscher Geschichte, denn es markierte das Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit: das Besatzungsstatut wurde aufgehoben, die Bundesrepublik erlangte die volle staatliche Souveränität, sie trat der NATO bei und gründete die Bundeswehr.
Als ein Symbol für diese Zeit beginnt Jähner die Ausführungen mit der Heimkehr der letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. Und diese Ausgemergelten kehrten heim in ein völlig verändertes Land, das eben ansetzte zu einem von niemandem so vorhergesehenen Aufstieg.
„Nie zuvor wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit so wohlhabend, so viele Kinder geboren, so viele Überstunden gemacht, so viele Doppelschichten gefahren und so viel Alkohol konsumiert zum Runterkommen.“ Während sich einerseits ein Konsum entstand mit Supermärkten und Versandhäusern, der das Wirtschaftsleben gründlich veränderte, änderte sich andererseits das gesellschaftliche Gefüge gleichermaßen grundlegend.
Da stand zu Beginn der große Rückschwung sowohl des bis dahin freizügigen Familien- und Sexuallebens hin zu Moralvorstellungen, wie sie vorm Krieg die Kirchen prägten. Wie der erstaunliche Umschwung der Frauenrolle von den – oft notgedrungen – eigenständigen Frauen zurück zur Rolle von Mutti und Hausfrau. Die zudem die Erlaubnis des „Haushaltsvorstands“ benötigte, wenn sie arbeiten gehen wollte.
Während in der Wirtschaft die Schlote rauchten, erste Gastarbeiter ins Land geholt werden mussten, aber auch erste Kohlezechen schlossen, weil Öl und Gas den Markt eroberten, waren auch Gesellschaftspolitik und Kultur im steten Wandel.
Insbesondere in diesem Themenkreis glänzt der auf einen Blickwinkel des Historikers achtende Autor auch mit exemplarischen Anekdoten prägender Begebenheiten. Wie bei Funk und Fernsehen: „Der Fernseher übernahm die Regie über das Familienleben.“
Beim Rundfunk allerdings herrschte noch sehr lange ein altbackener Duktus vor. Während bei Literatur und Theater eine Weltoffenheit einzog, blieb man im Rundfunk strikt heimatverbunden und einem strengen Bildungskanon unterworfen. Womit die Sender große Teile der deutschen Jugend verloren, denn die wollten Elvis und sonstigen „Ami-Mist“ und nicht Lys Assia und abgestandene Gebildeten-Musik hören. Und die Ironie der Geschichte ist, dass es nun ausgerechnet die Soldatensender der Besatzungsmächte wie AFN und BFBS waren, die die Aufmüpfigkeit der Jugend mit moderner Musik förderten.
Mit punktgenauer Zeitgeistanalyse widmet sich Jähner aber auch dem Bildungsaufbruch, dem Eichmann-Prozess und den Auschwitz-Prozessen Anfang der 60er Jahre. Dies und die SPIEGEL-Affäre von 1962 stehen denn auch dafür, wie aus der aus Trümmern entstandenen BRD eine funktionierende Demokratie wurde.
In der einerseits mit Politikern wie Kennedy und Brandt neue Zeiten anbrachen, aber auch die Jugendrevolte und die 68er heraufzogen. Einerseits ab etwa 1964 die sogenannten Gammler, die mit ihrer Leistungsverweigerung den emsigen Wirtschaftswunderbürger empörten – markantes Erinnerungsbeispiel der Kultfilm „Zur Sache, Schätzchen“ von 1967.
Andererseits stand da das Aufkommen der APO (Außerparlamentarischen Opposition), der Vietnam-Proteste und die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967, die unter anderem mitursächlich für das Entstehen der RAF waren. Das Wirtschaftswunderland BRD war gewissermaßen erwachsen geworden mit allen Licht- und Schattenseiten.
Harald Jähner hat hier eine spannend und unterhaltsam zu lesende Zeitgeschichte geschrieben. Wenn er dabei mit wenigen Ausführungen auch die DDR und deren parallele Entwicklung thematisiert, so ist das kein Manko sondern ganz und gar sachdienlich und bewahrt vor hinkenden Vergleichen, um die es hier nicht gehen soll.
# Harald Jähner: Wunderland. Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967; 479 Seiten, div. SW-Abb.; Rowohlt Verlag, Berlin; € 32
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
