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OLIVER HILMES: „EIN ENDE UND EIN ANFANG“
Als in Europa vor nunmehr 80 Jahren der Krieg endete, lag eine seltsame Stimmung über den betroffenen Ländern mit ihren unendlichen Zerstörungen und den Menschen, die sich in den Trümmerwüsten oder auf der Flucht irgendwie neu orientieren mussten.
Und während sich die Sieger zu Konferenzen über die Neuordnung der Welt trafen, bremste der britische Premierminister Winston Churchill in seiner Radiobotschaft am 8. Mai 1945 die Euphorie nach der Kapitulation des Nazi-Regimes, denn – im Pazifik tobte der Zweite Weltkrieg immer noch unvermindert.
Der Historiker Oliver Hilmes, promoviert in Zeitgeschichte, hat über diese Monate zwischen dem beginnenden Frieden in Europa und dem endgültigen Kriegsende im September 1945 unter dem Titel „Ein Ende und ein Anfang“ eine Art Reportage über Zustände und Entwicklungen geschrieben und den Tenor benennt der Untertitel „Wie der Sommer 45 die Welt veränderte“.
Die alte Welt ist zusammengebrochen und etwas Neues bricht sich bahn. Doch wie geht es den Opfern und den Tätern, den jetzt Agierenden und jenen, denen man das kriegerische und vielfach auch verbrecherische Handwerk gelegt hat. Eine zentrale Rolle kommt hier den „Großen Drei“ zu: US-Präsident Harry S. Truman, Sowjet-Herrscher Josef Stalin und eben Churchill.
Der über einen nicht anwesenden Möchtegern-Mitgewinner ätzt, dieser französische General de Gaulle sei „eitel und bösartig“. Also schafft das genannte Trio ohne ihn ab dem 17. Juli auf der Potsdamer Konferenz eine Nachkriegsordnung für Europa und die Welt. Der Autor umreißt die wesentlichen Regelungen nur, um so spannender lesen sich all die Eindrücke um die Vorgänge bei den Tagungen mit diesen drei sehr eigenen Köpfen.
Mindestens so interessant lesen sich jedoch auch die Schilderungen aus den zerstörten Städten, wobei Berlin – rund 20 Prozent aller Gebäude dort sind total zerstört oder schwer beschädigt – im Vordergrund steht. Wie die Trümmerfrauen ihre Arbeit aufnehmen, wie erstaunlich bald wieder erste Busse und Straßenbahnen verkehren.
Wie die Menschen in Theater und Kinos strömen, auch wenn das oft noch gefährliche Bruchbuden sind. Einzelschicksale geben Stimmungsbilder wieder und dann ist da beispielhaft das Kabarett der Komiker“, das bereits am 1. Juni wiedereröffnet und stets ausverkauft ist. Und hier singt die junge Brigitte Mira das Lied vom unbeugsamen Überlebenswillen der Berliner.

Dem einerseits die Ängste hunderttausender deutscher Frauen entgegenstehen, die in Vergewaltigungen vor allem durch Rotarmisten hilflos ausgeliefert sind. Doch da sind auch die Beobachtungen zu den Tätern und ihrem jetzigen Verhalten, wenn Klaus Mann als US-Soldat Nazi-Verbrecher aufspürt und Schwester Erika monströse Begegnungen im „Camp Ashcan“ in Bad Mondorf hat. Dort sind die Hauptangeklagten für den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess festgesetzt. Unter ihnen Göring, der die pompöseste aller Selbstinszenierungen versucht.
Dann gibt es das Interview mit Nazi-Verehrerin Winifred Wagner, die einst so eng mit Hitler war und ihn auch jetzt noch nur als charmanten Kavalier sehen mag. Aus den Aufzeichnungen der Elise Tietze aus Berlin-Steglitz erlebt man dagegen als roten Faden durch das gesamte Buch die Sorge einer Mutter um ihren als Soldat vermissten Sohn.
Doch der Zweite Weltkrieg tobt ja auch während der Potsdamer Konferenz noch und Blicke auf den Kriegsschauplatz sprechen von einem unglaublichen Blutzoll für die alliierten Soldaten angesichts extrem fanatischer Japaner.
Und hier kommt in den Ausführungen noch mehr als sonst eine Spezialität des Autors zum Tragen: er schreibt aus dem aktuellen Wissen der Akteure und wie sie dachten und aus diesen Momenten heraus handelten. Was denn auch erklärt, warum Präsident Truman eingedenk von Verlusten hunderttausender US-Soldaten, die bei einer offenbar unumgänglichen Invasion der japanischen Hauptinseln drohten, den Befehl zum Einsatz der Atombomben gab.
Um so mehr erstaunt aus heutiger Sicht, dass der Kaiser erst nach sechs Tagen und einem weiteren 1000-Bomberangriff endlich am 15. August 1945 die Kapitulation verkündete, die schließlich exakt sechs Jahre und einen Tag nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet wurde.
Die Schilderungen dieser vier Monate, die die Welt umfassend wie niemals zuvor veränderten, enden mit einer Feststellung zum Wetter: „Ein Sommer wie jeder andere.“


# Oliver Hilmes: Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte; 287 Seiten, div. SW-Abb.; Siedler Verlag, München; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)