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PHILIPPE SANDS: „DIE VERSCHWUNDENEN VON LONDRES 38“
Am 16. Oktober 1990 geschah in einer Londoner Klinik Sensationelles: mit Augusto Pinochet (1915-2006) wurde ein ehemaliger Diktator unter dem Vorwurf von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet, um ihn zu einem Gerichtsprozess auszuliefern.
In einer Nebenrolle war damals Philippe Sands von Human Rights Watch an diesem Justizdrama beteiligt. Der britisch-französische Jurist und Schriftsteller ist aktuell Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for Internationale Courts and Tribunals am University College in London und einer der renommiertesten Menschenrechtsanwälte.
Soeben wurde Sands für sein Buch „Rückkehr nach Lemberg“ über die Ermordung der Juden dort, unter ihnen auch ein Großteil seiner Familie, mit dem hochdotierten Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet. Mit seiner großen Expertise und seinen persönlichen Erfahrungen hat er nun den großen bericht über den fall Pinochet herausgebracht.
„Die Verschwundenen von Londres 38“ lautet der Titel und er nennt damit die Adresse des Gebäudes der Sozialistischen Partei im Herzen von Santiago de Chile. Die gleich nach dem Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende am 11. September 1973 von der Geheimpolizei DINA zur gefürchteten Verhör- und Folterzentrale umfunktioniert wurde.
Akribisch recherchiert, legt Sands nun dar, was für ein barbarisches Regime General Pinochet aufzog. Zehntausende Bürger wurden inhaftiert, drangsaliert und ermordet, über 3000 verschwanden in den Folterkellern und die wenigsten entkamen ihnen lebendig.
Pinochet konnte sich dabei auf vielfaches Wohlwollen gegenüber seiner Vernichtung Vernichtung der demokratisch gewählten sozialistischen Regierung Allendes stützen. Dabei spielte nicht nur die CIA eine unheilvolle schmähliche Rolle sondern auch der später so hochgelobte Henry Kissinger mit seiner Ehrerbietung vor dem verbrecherischen Diktator.
Originalzitat aus einer Grußadresse: „Mit dem Sturz Allendes haben sie dem Westen einen großen dienst erwiesen.“ Dies geschah bereits 1976 im Wissen der Verbrechen, der Auftragsmord an einem Regimegegner in New York sorgte später allerdings für einige politische Probleme in den USA.
Autor Sands kommt bei den Recherchen jedoch auch auf die Spur eines bis dato kaum beachteten Strippenziehers für und in der Diktatur. Weshalb der Untertitel denn auch „Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“ lautet. Schon einem seinem preisgekrönten Werk über die „Rattenlinie“ (siehe SB 460 vom Februar 2021 im Archiv!), auf der zahlreiche hohe Nazi-Schergen meist mit Hilfe des Vatikan sich ins lateinamerikanische Exil retten konnten, war er auch auf diesen Namen gestoßen: Walther Rauff (1906-1984).
Als hohe SS-Charge war er unter anderem der Initiator der Gaswagen zur Ermordung der Juden als Vorläufer der Gaskammern. Schon 1958 lernten er und Pinochet sich kennen und bereits kurz vor dem Putsch organisierte er auf Befehl des Generals den Bau eines KZ in der Atacama-Wüste.
Rauff war auch ein Führungsoffizier in der gefürchteten Geheimpolizei DINA und beim Geheimdienst. Verbindungen zur finsteren Sekte Colonia Dignidad sowie zum BND sind ebenfalls erwiesen. Die Schilderung von Rauffs Verbrechen lässt schaudern. Um so bitterer ist das Wissen, dass der Menschenverächter Pinochet im Endeffekt ebenso wenig für seine Verbrechen bestraft wurde wie sein übelster Handlanger Rauff.
Eine gwisse Genugtuung ist da lediglich das Erdbeben, das die Verhaftung Pinochets in London verursachte. Der war Anfang 1990 zurückgetreten, hatte sich aber zum Senator auf Lebenszeit – inklusive vollständiger Immunität vor Strafverfolgung in Chile – ernennen lassen.
Inzwischen aber war das Römische Statut zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung internationaler Verbrechen erfolgt und in Großbritannien zeigte die Labour-Regierung unter Tony Blair eine positive Haltung zur Menschenrechtspolitik.
Und in diesem Klima beantragte nun ein spanischer Richter die Festnahme und Auslieferung Pinochets nach Spanien, um ihn vor Gericht zu stellen. Tatsächlich entging der greise Ex-Diktator dennoch dem Tribunal, indem er sich einen sehr schlechten Gesundheitszustand attestieren ließ. So starb einer der übelsten politischen Verbrecher des 20. Jahrhunderts schließlich doch noch nach einigen ruhigen Jahren im eigenen bett.
Philippe Sands zeigt in diesem komplexen Justizthriller gleichwohl auf, wie der Schutzwall verbrecherischer Potentaten vor der internationalen Strafverfolgung seine Wirkung verlor. Dazu schildert er auch aus den Gerichtssälen und aus Gesprächen mit Verfahrensbeteiligten. Fazit: keine leichte Kost, aber ein ganz wichtiges Buch.


# Philippe Sands: Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien (aus dem Englischen von Thomas Bertram und Henning Dedekind); 623 Seiten, div. SW-Abb.; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 29

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)